Der Bundesgerichtshof (BGH) musste sich kürzlich mit der Vertragsauslegung bei Pflegerenten-Versicherungen befassen (Az.: IV ZR 126/23). Im Kern ging es um die Frage: Was passiert, wenn sich gesetzliche Grundlagen ändern und der Versicherungsvertrag nicht? Im betroffenen Fall hatte eine Frau 2014 eine private Invaliditätsversicherung mit Pflegerentenoption abgeschlossen. Damals lautete die Bedingung: Die Pflegerente wird gezahlt, wenn die versicherte Person in die Pflegestufe I, II oder III nach dem Sozialgesetzbuch (SGB XI) eingestuft wird.

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Doch zum 1. Januar 2017 trat das sogenannte „Zweite Pflegestärkungsgesetz“ (PSG II) in Kraft. Dieses Gesetz reformierte die Pflegeversicherung grundlegend: Aus den bisherigen Pflegestufen wurden Pflegegrade 1 bis 5. Die Begriffe und Kriterien wurden verändert und erweitert. Dabei ging es unter anderem auch darum Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen besser zu berücksichtigen. Die Versicherung änderte die Bedingungen ihres Altvertrags aber nicht. Damit wurde das ursprüngliche Kriterium – Pflegestufe I bis III – faktisch „abgeschafft“.

Die Klägerin erkrankte 2019 an Krebs und erhielt vom Medizinischen Dienst den Pflegegrad 2. Die Versicherung verweigerte jedoch die Zahlung der vereinbarten Pflegerente: Der Pflegegrad 2 sei nicht automatisch mit Pflegestufe I gleichzusetzen. Demnach bestehe eine Leistungspflicht nicht.

Das juristische Problem: Eine Lücke im Vertrag

Hier beginnt die juristische Debatte. Die Pflegegrade und Pflegestufen sind nicht deckungsgleich. Die alten Pflegestufen bezogen sich fast ausschließlich auf körperliche Einschränkungen. Die neuen Pflegegrade hingegen berücksichtigen auch psychische und geistige Einschränkungen. Somit kann jemand mit Pflegegrad 2 nach neuen Kriterien pflegebedürftig sein – wäre es aber nach alter Rechtslage möglicherweise nicht gewesen.

Das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg hatte im Sinne der Klägerin entschieden. Es sah eine „planwidrige Regelungslücke“ im Vertrag: Die versprochene Leistung knüpft an ein gesetzliches Konzept an, das es nicht mehr gibt. Also müsse der Vertrag im Wege der „ergänzenden Vertragsauslegung“ so verstanden werden, dass auch Pflegegrad 2 als Leistungsauslöser gilt.

Der BGH sagt: So einfach ist es nicht

Der Bundesgerichtshof sah das anders. Zwar erkannte auch er an, dass durch den Wegfall der Pflegestufen eine Lücke im Vertrag entstanden sei. Doch: Diese Lücke könne nicht einfach durch eine Auslegung geschlossen werden, die Pflegegrad 2 automatisch mit Pflegestufe I gleichsetzt.

Der Grund: Die neuen Pflegegrade beinhalten zusätzliche Kriterien, etwa kognitive oder psychische Beeinträchtigungen, die früher nicht leistungsbegründend waren. Eine solche automatische Gleichsetzung könnte dazu führen, dass plötzlich deutlich mehr Menschen Anspruch auf eine Pflegerente hätten als ursprünglich kalkuliert. Das hätte wiederum gravierende Folgen für das Versicherungskollektiv und die Beitragshöhe. Damit wäre die Auslegung keine bloße „Lückenfüllung“ mehr, sondern eine Vertragsänderung und diese steht dem Gericht nicht zu.

Zurück auf Los: Der Fall geht zurück ans OLG

Der BGH hob das Urteil des OLG Naumburg deshalb auf und verwies die Sache zurück. Das Berufungsgericht muss nun prüfen, ob eine Vertragsanpassung nach § 313 BGB („Wegfall der Geschäftsgrundlage“) möglich ist. Dabei sind die Interessen beider Seiten abzuwägen: Die Erwartungen der Versicherten bei Vertragsabschluss und die wirtschaftliche Belastung der Versicherung. Denn diese müsste durch eine neue Definition der Pflegebedürftigkeit vielleicht mehr zahlen, als sie kalkuliert hatte.

Laut BGH wäre es theoretisch auch möglich, dass Versicherer und Versicherungsnehmer künftig individuell prüfen müssen, ob der konkrete Pflegegrad einer alten Pflegestufe entspricht. Dann müsste gegebenenfalls ein medizinisches Gutachten darüber entscheiden, ob ein Versicherungsfall vorliegt – unabhängig von der Einstufung durch die Pflegekasse.

Was bedeutet das für Versicherte?

Für Verbraucher, die eine Pflegerentenversicherung abgeschlossen haben, bedeutet das Urteil vor allem eins: Unsicherheit. Wer eine Leistung beanspruchen will, aber im Vertrag noch die alten Pflegestufen als Voraussetzung findet, kann sich nicht einfach auf seinen Pflegegrad berufen. Im Zweifel muss er nachweisen (lassen), dass sein Zustand einer früheren Pflegestufe entspricht oder um eine Vertragsanpassung kämpfen.

Versicherer hingegen haben jetzt Klarheit, dass sie durch die Gesetzesänderung nicht automatisch höhere Leistungen erbringen müssen. Gleichzeitig müssen sie sich aber auch auf neue Prozesse einstellen, wenn Gerichte Verträge anpassen oder neue Maßstäbe definieren.