Die Solvenzquoten der deutschen Lebensversicherer sind 2024 kräftig eingebrochen. Auf den ersten Blick ein alarmierendes Signal – doch wer genauer hinsieht, erkennt: Dahinter steckt vor allem eine aufsichtsrechtlich gewollte Maßnahme. Die BaFin hat im Sommer 2024 eine Neuberechnung des sogenannten Rückstellungstransitionals angeordnet – einer Übergangsregel, die zuvor viele Quoten künstlich nach oben trieb. Der langjährige MAP-Report-Chefanalyst Reinhard Klages erklärt: „Im aktuellen Zinsumfeld sei die Höhe dieser Übergangsmaßnahme nicht mehr angemessen und könne sogar zu Fehlanreizen führen.“ Der neue MAP-Report 939 zeigt nun detailliert, wie stark diese Korrektur wirkt – und welche Anbieter besonders betroffen sind.

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Der Rückgang – und was dahintersteckt

Die aufsichtsrechtlich relevante SCR-Quote – also das Verhältnis zwischen vorhandenen Eigenmitteln und der geforderten Kapitalausstattung – sank im Branchenschnitt von 663,5 auf 340,3 Prozent. Ein Rückgang um über 320 Prozentpunkte. Doch dieser Wert spiegelt nicht etwa eine reale Schwächung der Unternehmen wider, sondern den Wegfall eines Bilanzpuffers: Das Rückstellungstransitional konnte infolge der Neuberechnung bei vielen Anbietern nicht mehr oder nur noch in geringem Umfang angesetzt werden.

Wesentlich aussagekräftiger ist die sogenannte Basisquote, bei der Übergangsmaßnahmen und Volatilitätsanpassung außen vor bleiben. Sie sank im gleichen Zeitraum nur leicht – von 320,8 auf 308,6 Prozent. Die Kapitalausstattung der Branche ist also weitgehend intakt. Klages betont: „Der Zinsanstieg seit 2022 hat bei deutschen Versicherern zu deutlich niedrigeren versicherungstechnischen Rückstellungen unter Solvency II und damit zu höheren Eigenmitteln geführt.“ In diesem Umfeld wird das Rückstellungstransitional zunehmend überflüssig – viele Gesellschaften verzichteten 2024 bereits freiwillig darauf.

Breite Spreizung – und Unternehmen unter Beobachtung

Auch wenn die durchschnittliche Kapitalausstattung stabil wirkt, zeigt der MAP-Report bei genauerer Betrachtung ein deutlich differenzierteres Bild: Die Spannweite zwischen den Lebensversicherern ist enorm. Während einige Anbieter bemerkenswert hohe Eigenmittelquoten ausweisen – ganz ohne regulatorische Hilfen –, geraten andere unter spürbaren Druck. Besonders deutlich wird das bei einem Blick auf die Basis-SCR-Quote, also das Verhältnis zwischen real verfügbaren Eigenmitteln und der Solvenzkapitalanforderung ohne Übergangshilfen und Volatilitätsanpassung. Die drei stärksten Anbieter 2024 sind:

  • LVM: 730,1 Prozent
  • LV 1871: 715,7 Prozent
  • Hannoversche: 692,0 Prozent

Sie liegen mehr als doppelt so hoch wie der Marktdurchschnitt von 308,6 Prozent – und zeigen damit eine außergewöhnlich solide Kapitalausstattung auf rein wirtschaftlicher Basis.

Am unteren Ende des Rankings finden sich dagegen:

  • Concordia Oeco: 27,6 Prozent
  • LPV: 35,5 Prozent
  • Öffentliche Oldenburg: 59,6 Prozent.

Diese Anbieter unterschreiten die 100-Prozent-Schwelle deutlich – und erfüllen damit aus eigener Kraft nicht einmal die rechnerische Mindestanforderung für ein einmal-in-200-Jahren-Stressszenario. Hier ist die Risikotragfähigkeit klar begrenzt.

Drei Versicherer in "Manndeckung der BaFin"

Noch deutlicher als bei der SCR zeigt sich die Spreizung bei der aufsichtsrechtlich vorgeschriebenen MCR-Bedeckungsquote – also der Mindestkapitalanforderung. Diese Quote gibt an, ob ein Lebensversicherer in der Lage ist, seine bestehenden vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Kunden unter normalen wirtschaftlichen Bedingungen zu erfüllen – ohne Berücksichtigung seltener Extremszenarien. Anders als bei der SCR geht es hier nicht um ein einmal-in-200-Jahren-Stresstest, sondern um die Absicherung des Tagesgeschäfts.

Die Spannweite ist enorm: Inklusive Übergangshilfen und Volatilitätsanpassung reicht die MCR-Bedeckungsquote 2024 von herausragenden 2.738,6 Prozent bei der LV 1871 bis hin zu lediglich 139,7 Prozent bei der Concordia Oeco. Doch auch hier kann die kosmetische Wirkung regulatorischer Hilfen das Bild verzerren. Aussagekräftiger ist deshalb die sogenannte Basis-MCR-Bedeckung, bei der Übergangsmaßnahmen außer Acht gelassen werden.

Und genau diese Basis-MCR-Bedeckung zeigt, wie ernst die Lage bei einzelnen Anbietern ist: Die Concordia Oeco liegt mit einer Basis-MCR-Bedeckung von –29,9 Prozent sogar im negativen Bereich, bei der LPV beträgt der Wert 40,3 Prozent, bei der Öffentlichen Oldenburg 55,0 Prozent. Alle drei verfehlen damit deutlich die kritische 100-Prozent-Marke. In diesen Fällen reichen die tatsächlich verfügbaren Eigenmittel nicht aus, um selbst ohne außergewöhnliche Belastungen die laufenden Verpflichtungen zuverlässig abzudecken.

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Das hat direkte aufsichtsrechtliche Konsequenzen: Die Unternehmen sind verpflichtet, der BaFin umgehend einen Finanzierungsplan vorzulegen – mit konkreten Maßnahmen zur Stabilisierung der Kapitalausstattung. In der Branche spricht man in solchen Fällen von der „Manndeckung der BaFin“. Diese geht mit strenger Beobachtung einher, der Spielraum für unternehmerische Entscheidungen wird kleiner. Und: Sollte die Unterdeckung dauerhaft bestehen bleiben, droht als letztes Mittel sogar der Entzug der Geschäftserlaubnis.

Der Übergang endet – und mit ihm die Illusion der Überdeckung

Mit der Neuberechnung der Übergangsmaßnahmen ist auch die Zeit der extrem aufgeblähten Quoten vorbei. Jahrelang hatte das Rückstellungstransitional bei vielen Lebensversicherern für beeindruckend hohe Solvenzquoten gesorgt – mit teils über 1.000 Prozentpunkten Differenz zwischen Basisquote und aufsichtsrechtlicher Anzeige. Reinhard Klages schreibt: „In den Vorjahren betrug der Unterschied zwischen der Basisquote […] und dem aufsichtsrechtlichen Nachweis vielfach mehr als 500 Prozentpunkte, nicht selten sogar weit über 800 bis hin zu 1.100 Prozentpunkten“ (Versicherungsbote berichtete).

Nach der Umstellung ist davon kaum noch etwas übrig: Der Unterschied zwischen Basisquote und aufsichtlicher Quote beträgt zum Bilanzstichtag 2024 im Durchschnitt nur noch 32,0 Prozentpunkte – ein Rückgang um über 90 Prozent. Damit rückt der Markt näher an die ökonomische Realität heran.

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Was viele Jahre als Stabilität erschien, war in Wahrheit zu einem erheblichen Teil eine durch Übergangsmaßnahmen erzeugte Illusion der Überdeckung. Diese Maßnahmen – insbesondere das Rückstellungstransitional – dienten ursprünglich dem Zweck, den abrupten Übergang von alten zu neuen Solvabilitätsregeln abzufedern. Doch im aktuellen Zinsumfeld sind viele dieser Hilfen faktisch überflüssig geworden. Sie verschleierten über Jahre hinweg, wie viel Kapital tatsächlich ohne regulatorische Unterstützung verfügbar war – und wie groß die Abhängigkeit von bilanziellen Übergangserleichterungen bei einigen Anbietern geblieben ist.

Immer weniger Unternehmen nutzen Hilfen

Auch in der Anwendungspraxis der Hilfen zeigt sich ein klarer Kurswechsel. Der MAP-Report zählt:

  • Von den 76 (Vorjahr 80) Lebensversicherern nutzen in 2024 nur noch 44 die Übergangsmaßnahmen für versicherungstechnische Rückstellungen gemäß Paragraf 352 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) – im letzten Jahr waren es noch 50 Lebensversicherer;
  • 22 Lebensversicherer nutzten 2024 ausschließlich die Volatilitätsanpassung, die naturgemäß nur wenige Prozentpunkte mehr einbringt als die Basisquote;
  • ein einziges Unternehmen – die Credit Life – kombinierte Übergangsmaßnahmen bei Zinsstruktur und Rückstellungen;
  • sieben Anbieter verzichteten vollständig auf jegliche Übergangshilfen: darunter Delta Direkt, DLVAG, Dortmunder, Ergo Vorsorge, Europa, Hannoversche und InterRisk.

Die Folge: Die aufsichtsrechtlich relevante SCR-Quote sinkt zwar spürbar – aber sie wird zugleich ehrlicher. Während der Markt 2023 im Schnitt noch bei 663,5 Prozent lag, beträgt der Wert mit Übergangshilfen 2024 nur noch 340,3 Prozent. Ohne diese Maßnahmen – also als Basisquote – liegt der Wert bei 308,6 Prozent.

Kapitalstark ohne Stützräder: Die besten Basisquoten 2024

Die Basisquote zeigt, wie solide die Kapitalausstattung eines Unternehmens ist – ganz ohne regulatorische Hilfsmaßnahmen. Sie gilt daher als die ehrlichere Kennziffer. Der neue MAP-Report listet die Quoten sämtlicher Lebensversicherer auf, die 2024 SFCR-Berichte veröffentlicht haben – und zeigt: Einige Anbieter stehen auch ohne Übergangshilfen extrem gut da.

Hier die Top 10 der höchsten SCR-Bedeckungsquoten 2024 auf Basisquote (in Prozent):

  1. LVM: 730,1
  2. LV 1871: 715,7
  3. Hannoversche: 692,0
  4. WGV: 687,9
  5. Europa: 682,5
  6. SV: 682,5
  7. Ideal: 656,6
  8. Ergo Vorsorge: 625,0
  9. Provinzial: 591,5
  10. Stuttgarter: 581,7

Die SCR-Bedeckungsquote drückt hierbei aus, wie hoch das vorhandene Eigenkapital eines Versicherers im Verhältnis zum aufsichtsrechtlich geforderten Solvenzkapital ist. Dieses Kapital soll sicherstellen, dass das Unternehmen auch dann alle Verpflichtungen erfüllen kann, wenn ein außergewöhnliches Stressszenario eintritt – zum Beispiel ein massiver Zinsanstieg, ein Einbruch der Aktienmärkte oder eine deutliche Verschlechterung der Lebenserwartung.

Die zugrunde liegende Annahme: Das Szenario darf mit einer Wahrscheinlichkeit von höchstens 0,5 Prozent pro Jahr eintreten – also einmal in 200 Jahren. Eine Quote von genau 100 Prozent bedeutet, dass das Unternehmen gerade so ausreichend Eigenmittel für dieses Szenario vorhält. Liegt die Quote deutlich darüber, bestehen robuste Puffer. Liegt sie darunter, reicht das Eigenkapital im schlimmsten Fall nicht aus, um alle Verpflichtungen vollständig zu decken.

Kleine Anbieter mit hohen Quoten – ein Erklärungsversuch

Auffällig ist: Unter den Spitzenreitern mit den höchsten Basisquoten finden sich gleich mehrere kleinere Lebensversicherer mit Direktgeschäft – etwa Europa, Hannoversche, InterRisk oder Ideal. Ihre beeindruckenden Quoten haben allerdings weniger mit einer überdurchschnittlichen Kapitalausstattung zu tun, sondern sind vor allem strukturell bedingt.

Viele dieser Anbieter konzentrieren sich auf klar umrissene Sparten, allen voran die Risikolebensversicherung. Dieses Geschäft ist kalkulatorisch vergleichsweise risikoarm, da keine lang laufenden Garantien abgesichert werden müssen. Anders als bei klassischen Lebensversicherungen mit Rückkaufswert entstehen keine langfristigen Kapitalbindungseffekte – das verringert den Kapitalbedarf und steigert rechnerisch die Solvenzquote.

Auch der Geschäftsaufbau dieser Direktversicherer spielt eine Rolle: Sie agieren mit schlanken Verwaltungsstrukturen, kleinen Vertragsbeständen und ohne umfangreiche Altverträge mit hohen Zinsgarantien. Die hohen Quoten sind damit Ausdruck einer klar fokussierten Geschäftspolitik, nicht zwangsläufig ein Zeichen für besondere Krisenfestigkeit im Branchendurchschnitt.

Die Schlusslichter 2024 – wo die Luft dünn wird

Nicht alle Anbieter konnten mit Blick auf die reale Eigenmittelausstattung überzeugen. Besonders im unteren Bereich zeigen sich teils drastische Abstände zum Branchenschnitt von 308,6 Prozent. Einige Unternehmen unterschreiten sogar deutlich die kritische 100-Prozent-Marke – das bedeutet: Im Ernstfall reicht das vorhandene Eigenkapital nicht aus, um ein schweres Stressszenario vollumfänglich abzufedern.

Die zehn niedrigsten Basisquoten 2024 (absteigend):

  • Gothaer: 124,8 %
  • Athora: 117,0 %
  • Ergo: 115,0 %
  • Neue Leben: 109,6 %
  • Zurich Life Legacy: 108,0 %
  • Bayerische Vorsorge: 107,8 %
  • Cosmos: 106,2 %
  • Öffentliche Oldenburg: 59,6 %
  • LPV: 35,5 %
  • Concordia Oeco: 27,6 %

Wichtig ist: Ein Wert unter 100 Prozent bedeutet nicht, dass ein Versicherer unmittelbar insolvent ist. Wie Reinhard Klages erklärt, weist eine solche Quote lediglich auf eine unzureichende Risikotragfähigkeit im Sinne von Solvency II hin – also auf die rechnerische Unterdeckung im Fall eines 200-Jahres-Schocks.

Auch muss die Situation eines Versicherers bedacht werden, wie das Beispiel der Ergo-Töchter zeigt: Die Ergo Vorsorge Lebensversicherung AG hat eine der besten Solvenzquoten – sie hat das Privileg, sich ganz auf das Neugeschäft der Ergo-Gruppe zu konzentrieren. Ihre Produktpalette ist modern, flexibel und auf das aktuelle Zinsumfeld ausgerichtet – das reduziert Risiken und erleichtert die Kapitalsteuerung. Ganz anders die Ergo Lebensversicherung AG: Sie zählt mit einer Basisquote von lediglich 115,0 Prozent zu den schwächsten der Branche. Der Grund: Die Gesellschaft befindet sich im internen Run-off und verwaltet ausschließlich hoch verzinste Altverträge aus dem früheren Neugeschäft – ohne Neuzugang, ohne Umschichtungsspielräume.

Hintergrund: Die Daten in diesem Beitrag stammen aus dem soeben veröffentlichten MAP-Report Nr. 939 „Solvabilität im Vergleich“, herausgegeben von Franke und Bornberg. Der Bericht analysiert detailliert die Solvenzquoten deutscher Lebens- und privater Krankenversicherer für das Jahr 2024 – einschließlich Basisquoten, MCR-Bedeckung, Übergangshilfen sowie der Entwicklung zentraler Kennzahlen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Neben den aktuellen Werten enthält der MAP-Report umfangreiche Zeitreihen von 2015 bis 2024 zu Eigenmitteln, versicherungstechnischen Rückstellungen, Marktanteilen und Quotenvarianten – differenziert nach Bilanzzahlen und SFCR-Berichten.

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Damit bietet die Studie eine fundierte Grundlage für Marktvergleiche, Risikoeinschätzungen und strategische Bewertungen. Der vollständige Report kann kostenpflichtig über die Webseite von Franke und Bornberg bestellt werden.

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