Der Freiburger Ökonom und frühere Ergo-Aufsichtsrat Bernd Raffelhüschen ist bekannt für streitbare Thesen. „Rentner, die an der Armutsgrenze leben“, müssten Hilfestellungen gegeben werden, „indem sie auch zum Beispiel länger arbeiteten“, forderte er zum Beispiel vor wenigen Wochen: und provozierte damit in sozialen Netzwerken teils aggressive Reaktionen, weil der Appell für längeres Arbeiten vermeintlich einseitig an Menschen mit geringem Einkommen adressiert war. Gleichwohl hat sich der 65jährige als Politikberater einen Namen gemacht. Er berät unter anderem die Europäische Kommission und das Sozialministerium Baden-Württemberg: seine Stimme wird gehört und seine Vorschläge finden sich in manch Gesetzgebungs-Verfahren wieder.

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Auch die Reaktionen auf seinen neuesten Vorschlag ließen nicht lang auf sich warten. Diesmal gab es bei „Twitter“ sogar eine Abfuhr von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der indirekte Vorwurf: Erneut wird dem Professoren aus Freiburg vorgeworfen, dass seine Vorschläge sozial unausgewogen seien. „Der Vorschlag wird nicht kommen. Für Uniprofessoren wie Herrn Raffelhüschen oder mich wären diese Vorschläge bezahlbar. Für die große Mehrheit der Bevölkerung geht das nicht“, kommentierte Lauterbach die Vorschläge von Raffelhüschen.

Bis zu 2.000 Euro Selbstbeteiligung im Jahr für Kassenpatienten

Konkret geht es um die Frage, wie die explodierenden Kosten im Gesundheitssystem künftig aufgefangen werden können. In diesem Jahr erwartet die Bundesregierung bei den gesetzlichen Krankenkassen einen Fehlbetrag von 17 Milliarden Euro. Ökonomen halten selbst diesen Betrag für zu optimistisch berechnet, weil eine mögliche Rezession der deutschen Wirtschaft noch gar nicht berücksichtigt wurde. Eine schwache Wirtschaft würde die Einnahmen der Kassen deutlich schmälern.

Und ein Ende der Kostenspirale ist nicht in Sicht. Uwe Klemens, Verbandschef der Ersatzkassen (vdek), warnte bei der Neujahrs-Pressekonferenz des Verbandes, den Krankenkassen drohe in den kommenden Jahren ein Defizit von „30 Milliarden Euro plus X“, sofern keine einschneidenden Reformen umgesetzt würden.

Zwar hat Karl Lauterbach eine Gesundheitsreform angekündigt und will unter anderem die Kosten bei den Krankenhäusern drosseln, die einer der größten Ausgabenposten im GKV-System sind. Mehr Eingriffe und Behandlungen sollen ambulant durchgeführt werden und so soll jede vierte Krankenhaus-Behandlung wegfallen. Ob dies realistisch ist, daran meldete unter anderem die Bundesärztekammer (BÄK) Zweifel an. Die Sorge: Kliniken könnten das neue Gesetz ausnutzen, um Personalengpässe auszugleichen und den Profit zu steigern - auf Kosten der Patienten.

Raffelhüschens Vorschlag: bis zu 500 Euro je Behandlung aus eigener Tasche

In diese Debatte stößt nun auch Bernd Raffelhüschen hinein. Gegenüber der BILD-Zeitung vom Mittwoch warnt er, dass der Beitrag zur gesetzlichen Krankenkasse von im Schnitt 16,2 Prozent auf 22 Prozent im Jahr 2035 steigen müsste. „Wir können uns das System nicht mehr leisten“, warnt er. Sein Vorschlag, um Kosten zu reduzieren: Kassen-Patienten sollen künftig einen Teil der Arzt- und Klinikkosten aus eigener Tasche zahlen, um die Kostenexplosion zu dämpfen.

Konkret sollen die Patienten zunächst bis zu 50 Prozent der Arztkosten und dann bis zu 20 Prozent der weiter anfallenden Kosten selbst zahlen müssen. Maximal bis zu 500 Euro je Behandlung und 2.000 Euro pro Jahr. Bei Geringverdienern soll der Staat zusätzliche Zuschüsse gewähren. Die Patienten sollen nach jedem Termin eine Rechnung erhalten, die sie zunächst selbst zahlen und dann bei der Krankenkasse einreichen.

Doch damit nicht genug: Der Ökonom will auch gesundheitsschädliches Verhalten stärker sanktionieren. So sollen Raucher und Übergewichtige künftig stärker an Folgekosten beteiligt werden. Und nicht nur das. Wer Risikosportarten betreibt, zu denen Raffelhüschen selbst das Skifahren zählt, soll die Folgekosten von zum Beispiel Brüchen komplett selbst übernehmen.

Beschäftigte profitieren?

Nach Einschätzung von Raffelhüschen würden durch die Reform vor allem ältere Menschen verstärkt zur Kasse gebeten, während Beschäftigte und Beitragszahler stark davon profitieren, berichtet die BILD. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Auch Menschen mit chronischen Krankheiten sowie Beschäftigte, die in Risikoberufen mit hoher Verletzungs- und Unfallgefahr arbeiten -etwa Dachdecker und Handwerksberufe-, würden voraussichtlich verstärkt zur Kasse gebeten. Eben all jene, die statistisch öfter eine Arztpraxis aufsuchen müssen.

Dass die Idee, Behandlungen durch zusätzliche Kosten unattraktiver zu machen, ein gefährlicher Fehlschuss sein kann, zeigten bereits die Erfahrungen mit der Praxisgebühr. Ab 2004 mussten Kassenpatienten für jeden erstmaligen Arztbesuch im Quartal zehn Euro Gebühr bezahlen: doch 2012 wurden diese Extrakosten wieder abgeschafft. Ein Grund: Studien hatten gezeigt, dass speziell finanziell schlechter gestellte Personen Arztbesuche nach hinten schieben und Präventionsangebote weniger in Anspruch nehmen. Genau dadurch können sich aber die Kosten einer Behandlung verteuern, wenn etwa Krankheiten erst in einem späten Stadium erkannt werden und dann schwerere Eingriffe nötig sind.

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Auch entpuppte sich die Praxisgebühr als bürokratisches Monster. Die damalige Bundesregierung bezifferte die jährlich entstandenen Verwaltungs-Kosten im letzten Jahr der Gebühr auf 330 Millionen Euro. Auch den Arztpraxen entstand Mehrarbeit. Koalition und Opposition kippten die Gebühr 2012 im Bundestag mit 548 zu null Stimmen: ein einstimmiges Ergebnis. „Das habe ich im Deutschen Bundestag noch nie erlebt“, wunderte sich der damalige Vizepräsident des Bundestages, Wolfgang Thierse.

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