Versicherungsbote: Herr Kiera, Sie stellen den Versicherern in Sachen Digitalisierung kein so gutes Zeugnis aus. Mal provokativ gefragt: Wen Sehen Sie bei digitalen Services gerade im Vorteil? Die Deutsche Bahn oder die Versicherer?

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Dr. Robin Kiera: Deutsche Bahn und Versicherer sind ein sehr gutes Beispiel, denn ich glaube, wenn die deutschen Versicherer sich nicht weiter bewegen, weiter digitalisieren, neue Produkte und Services entwickeln, um näher beim Kunden zu sein, enden sie so, wie die Deutsche Bahn: irgendwie da, aber immer zu spät. Ich glaube ganz ehrlich, dass die deutsche Versicherungsindustrie nicht alles falsch macht, aber das sie hier deutlich mehr machen können.

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Wo beobachten Sie Fortschritte in der Branche? Hat sich in den letzten Monaten etwas getan?

In den letzten Monaten habe ich immer mehr Versicherer gesehen, die nicht nur in traditionellen Wegen Vertrieb machen - also Ausschließlichkeit, Makler, Direktvertrieb, Vergleicher - , sondern auch immer stärker auf Social Media aktiv sind und dort die Gelegenheit nutzen, mit dem Kunden in Austausch zu treten. Das erhöht die Kontaktpunkte zum Kunden deutlich. Und ganz ehrlich: Als ich noch Versicherungsvermittler war, hätte ich sowas gern gehabt. Wir sehen Versicherer auf TikTok und anderen Sozialen Netzwerken, die dort erfolgreich sind. Wir sehen auch Versicherer, die sich überlegen, wie sie ihre Vertriebs-Mannschaften befähigen können oder welche Inhalte sie in digitalen Medien verwenden. Das ist eine sehr interessante Entwicklung. Denn wenn die Vertriebe das umsetzen und plötzlich ein Vertrieb hundertfach mehr Kontaktpunkte mit seinen Endkunden hat, bin ich mir relativ sicher, dass sich das auf's Geschäft auswirkt. Und das finde ich spannend.

Vor Kurzem wurde eine Wutrede von Allianz-Chef Oliver Bäte öffentlich, in der er harte Attacken gegen seinen eigenen Konzern fährt. Vieles an der IT sei „Crap“, er überlegt sogar, ob die Allianz die falsche IT-Strategie hat. Der Versicherer hat Milliarden in seine Digitaloffensive gesteckt: wie andere große Anbieter auch. Was läuft denn da nach Ihrer Einschätzung schief? Fließt das Geld der Versicherer in die falschen Kanäle?

Wutreden von Vorständen finde ich richtig und wichtig - klar, sie sind kein Selbstzweck. Aber den Mut zu haben, zu sagen, was nicht richtig läuft, finde ich gut. Am besten ist natürlich, wenn so etwas intern bleibt. Nichtsdestotrotz halte ich das für ein gutes Zeichen.

Ich denke, das Hauptproblem ist einfach, dass bei vielen IT-Projekten nicht die entscheidenden Fragen gestellt werden. Millionen und Milliarden werden in IT-Projekten verballert, um Systeme zu optimieren, die eigentlich ersetzt werden müssten. Deswegen bin ich bei jedem IT-Projekt dafür, sich die Frage zu stellen: 'Wem nützt es'. Und als kleinen Tipp von einem Familienunternehmer dazu: Immer wenn ein neues IT-Projekt vorgeschlagen worden ist, hat er gesagt: 'Okay, wir können ein neues IT-System einführen. Dafür müssen wir aber zwei abschalten.' Keine Frage: Dieses Unternehmen hat nicht so eine zerklüftete IT-Landschaft wie viele deutsche Versicherer.

Versicherer klagen immer wieder, dass Regulierungsvorschriften ihnen bei digitalen Services Grenzen setzen. Die Branche sei strenger reguliert als andere, etwa mit Blick auf den Datenschutz und Beratungspflichten - Amazon und Co. müssten derart strenge Vorgaben nicht beachten. Berechtigter Einwand? Sind die Regulierungsvorgaben in Deutschland vielleicht unzeitgemäß oder ist das nur ein Alibi?

Wer bringt eigentlich immer die ganzen Regelungen hervor? Das sind meistens Nein-Sager. Natürlich müssen sich Unternehmen an Regeln halten, den Kapitalstock ordentlich anlegen oder Datenschutzvorschriften einhalten. Aber ganz häufig kommt es von Abteilungen oder von Leuten, die sagen: 'Nein, das geht alles nicht.' Meine Anforderung an Head of Legal und Head of Compliance wäre: Sag' mir nicht, wie es nicht geht, sondern wie es geht. Versteht man Regulatorik so, wird sie zur Chance. Kleines Beispiel: Das sogenannte Facebook-Pages-Urteil wird viel diskutiert: Können wir das betreiben? Welche Risiken haben wir? Dabei gibt es eine ganz einfache Lösung: Lagert eure TikTok-Kanäle an Dritte aus!

Aktuell stehen ESG-Kriterien im Fokus der Branche: auch Finanzdienstleister sollen ökologischer, sozialer und verantwortungsbewusster investieren und arbeiten, die EU macht Druck auf die Branche. Haben Sie Ideen, wie an dieser Stelle digitale Services vermehrt genutzt werden können?

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ESG - die Nachhaltigkeit war schon vor dem Krieg in der Ukraine ein Thema. Und ist es auch vermehrt wegen Energie und Energie-Abhängigkeit. Ich möchte gar nicht die politische Dimension dieser Themen besprechen. Was ich immer wieder merke ist: Es gibt Versicherer, die haben coole Ideen. Es gibt Versicherer, die machen ganz tolle Sachen - nicht nur Verzicht auf den Dienstwagen, was der ein oder andere Versicherer hat, sondern auch ganz andere praktische Dinge. Mein Wunsch an die Branche wäre deshalb: Macht ihr mehr zu ESG-Themen, dann redet auch mehr darüber!

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