Eine Lebensversicherung kann erfolgreich widerrufen werden, wenn die Widerrufsbelehrung fehlerhaft ist und der Vertrag zwischen 1994 und 2007 nach dem sogenannten Policenmodell abgeschlossen wurde: und zwar zeitlich unbefristet. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem Urteil im Jahr 2013 (Rechtssache C-209/12). Bei dieser Vertriebsform wurden Kundinnen und Kunden erst über ihre Rechte und Pflichten informiert, nachdem sie den Vertrag unterschrieben haben. Das ist nicht vereinbar mit dem europäischen Verbraucherschutz.

Anzeige

Doch in den letzten Jahren erlitten Verbraucherinnen und Verbraucher vielfach Niederlagen, wenn sie gegen ihren Versicherer auf Rückabwicklung klagten. Der Grund: oft wollten die Betroffenen ihren Vertrag rückabwickeln lassen, nachdem dieser bereits abgelaufen war. Deshalb machten die Richter einen Rechtsmissbrauch geltend, weil gegen Treu und Glauben verstoßen werde. Stark vereinfacht wurde den Klagenden unterstellt, sie hätten die neue Rechtssituation ausgenutzt und ihre Ansprüche längst verwirkt.

Neues Urteil macht Klägern Hoffnung

Doch ein aufsehenerregendes Urteil könnte nun die Situation zugunsten der Klagenden umkehren. Der Verfassungsgerichtshof (VGH) Rheinland-Pfalz entschied demnach, ein Gericht dürfe auch vier Jahre nach dem vereinbarten Ablauf des Vertrages nicht davon ausgehen, dass ein Widerruf rechtsmissbräuchlich sei. Das gelte selbst dann, wenn der Vertrag längst abgelaufen war und die vereinbarte Summe ausgezahlt wurde. Auf das Urteil macht die Kanzlei Witt Rechtsanwälte aufmerksam, die den Klagenden vor Gericht vertrat.

Geklagt hatte ein Sohn, der die Lebensversicherung von seiner Mutter geerbt hatte. 2012 willigte er ein, dass ihm die vereinbarte Summe ausgezahlt wird: zwei Jahre nach dem Tod der Mutter. Der Versicherer hatte extra gefragt, ob er das Geld derart erhalten will. 11.271 Euro erhielt er zugesprochen. Doch eine Rückabwicklung würde ihm einen noch höheren Betrag zusichern. Der Kläger machte 17.320 Euro plus Zinsen geltend: 2016, fast genau vier Jahre, nachdem er die Versicherungssumme erhalten hatte.

Die lange Zeit, die zwischen Auszahlung der Versicherungssumme und der Forderung nach Rückabwicklung verging, wurden ihm in den beiden Vorinstanzen zum Verhängnis. Sowohl das Landgericht Trier als auch das Oberlandesgericht Koblenz sahen es nicht als gegeben an, dass der klagende Sohn darauf bestehen kann, die Versicherung nach so langer Zeit rückabwickeln zu lassen. Sie gaben dem Versicherer Recht. Der Mann habe schließlich den Vertrag auch nicht angefochten, nachdem dieser direkt abgewiesen worden sei. Das Oberlandesgericht wies einen Anspruch auf Berufung explizit zurück.

Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg: EuGH hätte eingeschaltet werden müssen

Doch der Mann legte erfolgreich Verfassungsbeschwerde ein. Vereinfacht warfen die Kläger den Richtern des OLG vor, diese hätten unterstellt, dass bereits eine klare Rechtslage nach EU-Recht bestehe, wonach die Ansprüche des Mannes abgeschmettert werden könnten. Doch das sei nicht der Fall. So sei schon zweifelhaft, ob der Einwurf des Rechtsmissbrauchs nach Unionsrecht überhaupt angewendet werden dürfe. Demnach habe das Oberlandesgericht nicht ausreichend begründet, weshalb der Mann rechtsmissbräuchlich gehandelt haben soll.

Dem schloss sich das Verfassungsgericht weitestgehend an. Zwar sei es für Gerichte grundsätzlich möglich, den Rechtsmissbrauch nicht ausreichend begründen zu müssen. Jedoch müsse dann der Europäische Gerichtshof (EuGH) eingeschaltet werden, damit dieser das subjektive Element des Einzelfalls überprüfen könne. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass das Willkürverbot im Hinblick auf den gesetzlichen Richter und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz verletzt wurde. Bei unklarer Rechtslage habe sich das Oberlandesgericht so verhalten, als ob die Rechtslage längst geklärt sei.

Anzeige

Der Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem die Berufung zurückgewiesen wurde, verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter, hob das Verfassungsgericht hervor. Es berief sich hierbei auf Art. 6 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz.

Vorabentscheidungsverfahren nicht angewendet

Konkret hätte das Oberlandesgericht Koblenz den Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens anrufen müssen, um die individuellen Ansprüche des Klagenden zu klären, erklärt Rechtsanwalt Tobias Pielsticker aus München, der das Verfahren geführt hat. Dies sei nicht erfolgt. „Wir erleben fast täglich, dass sich die Instanzgerichte über Europäisches Recht und ihre Vorlagepflicht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zulasten von Verbraucherinnen und Verbrauchern hinwegsetzen“, klagt der Anwalt.

Es handle sich folglich nicht um einen Einzelfall: auch andere Gerichte hätten klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern das Recht auf Rückabwicklung verweigert, indem sie Rechtsmissbrauch geltend machten. Aber der EuGH vertrete hier eine sehr enge Auslegung des Rechtsmissbrauchs: auch deshalb, weil es diesen Einwand in anderen EU-Ländern gar nicht gebe. Folglich rechnet man sich gute Chancen aus, dass die EU-Instanz im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher urteilt.

Anzeige

Derartige Rechtsstreite enden oft mit Vergleich

Allerdings fürchtet der Anwalt, dass der Rechtsstreit in Form eines Vergleichs beigelegt werde, weil die Versicherer so ein Grundsatzurteil zu ihrem Nachteil abwenden könnten. Der Rechtsstreit wurde an das Oberlandesgericht zurückgewiesen.

"Viele deutsche Gerichte weigern sich versteckt oder offen, das europäische Verbraucherschutzniveau und die Kompetenzen des EuGH anzuerkennen", sagt Pielsticker. Dem habe der Verfassungsgerichtshof nun eine klare Absage erteilt und damit einen effektiven Verbraucherschutz gestärkt. "Auch der Bundesgerichtshof, der sich zu den entscheidenden Fragen bisher ausgeschwiegen hat, ist nun aufgefordert, eine Klärung durch den EuGH herbeizuführen, die mit Sicherheit zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher ausfallen wird", so der Anwalt.

Seite 1/2/

Anzeige