Im Juli 2021 sorgte Tief „Bernd“ mit Starkregen und Überschwemmungen für hohe Schäden und viele Todesopfer, vor allem in Westdeutschland. Häuser wurden von schweren Sturzfluten unterspült und stürzten ein, Straßen verwandelten sich in reißende Flüsse. Für viele Menschen wurde das Hochwasser zur Todesfalle: insgesamt verloren mehr als 230 ihr Leben. Auch der Sachschaden ist immens: auf bis zu 50 Milliarden Euro werden die gesamtwirtschaftlichen Folgekosten geschätzt. Es wird noch Jahre dauern, bis Häuser und Infrastruktur wieder aufgebaut sind und alle Flutschäden beseitigt.

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Die Zurich stellt nun eine Analyse zu diesen Extremwetter-Ereignissen vor: und kommt zu einem bitteren Fazit. Viel Leid und viele Kosten hätten vermieden werden können, wenn man nur besser auf ein derartiges Ereignis vorbereitet gewesen wäre. Denn es habe an Prävention und einem funktionsfähigen Frühwarm-System gefehlt. Auch Empfehlungen will der Bericht geben, wie die Städte und Gemeinden in Zukunft mit den Folgen der Flut leben können. Die sogenannte PERC-Ereignisanalyse (Post-Event-Review-Capability) wurde von mehreren Experten erstellt, unter anderem Wissenschaftler des Zurich Flood Resilience Programs und der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC).

Komplexes Verständnis der Hochwasser-Katastrophe

In den Medien hat sich die Sicht auf die Flutkatastrophe stark auf die Folgen des Klimawandels fokussiert. Doch dieser Ansatz ist laut Zurich-Analyse zu einseitig. “Klar ist: Wer die Katastrophe allein auf ein unvorhersehbares Extremwetterereignis infolge des Klimawandels reduziert, gegen dessen Folgen man machtlos ist, verkennt die komplexe Realität“, schreibt der Versicherer im Pressetext. Die Studie zeige, „dass ein unzureichendes Hochwasserverständnis, eine problematische Wiederaufbaustruktur sowie ungenügende Maßnahmen zur Risikoreduktion im Vorfeld einen entscheidenden Teil an der Katastrophe tragen“.

Der Versicherer nennt Versäumnisse, die mehr ins Detail gehen. Während das Extremwetterereignis in seiner Intensität gut vorhergesagt werden konnte, habe dies für das daraus folgende Hochwasser nicht gegolten: ein Grund, weshalb die Menschen zu spät oder gar nicht gewarnt wurden. Nur für größere Flüsse wie Rhein und Mosel habe es treffende Aussagen zur Intensität des Hochwassers gegeben, nicht aber für die kleineren Flüsse. Hier konnte die Situation nicht annähernd exakt vorhergesagt werden, bemängelt die Zurich.

Die Zurich verweist auf weitere Missstände: Die Zusammenarbeit zwischen meteorologischen und hydrologischen Vorhersage-Diensten sowie dem lokalen Katastrophenschutz sei unzureichend gewesen. Hinzu komme eine zu geringe Zahl an Pegelstationen, die Hochwasser-Prognosen unterstützen. Zudem sei die Genauigkeit von Hochwassermodellen bei weitem nicht ausreichend.

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Unzureichende Hochwasser-Karten könnten auch künftig zum Problem werden, mahnt die Zurich. „Hochwasserkarten und die Ausweisung von Überschwemmungsgebieten dürfen sich nicht nur auf ‚Durchschnittsereignisse‘ beziehen, sondern sollten auch ein maximal mögliches Hochwasser-Szenario enthalten,“ sagt Horst Nussbaumer, Chief Claims und Operating Officer der Zurich Gruppe Deutschland. Das beinhalte etwa Hochwasser-Reaktionen aufgrund gesättigter Böden oder Verklausungen: also an Stellen, wo der Boden nicht viel Wasser speichern kann oder Treibgut und Holz Fließgewässer staut bzw. versperrt. Solche Erkenntnisse sollten Kommunen auch stärker nutzen, wenn sie Flächennutzungs- und Bebauungspläne erstellen.

Frühwarnsysteme haben versagt

Die Defizite wirken sich direkt auf die Frühwarnsysteme aus. Diese hätten entweder keine, zu wenige oder widersprüchliche Informationen geliefert. Die Zurich nennt als Beispiel Katwarn: die Warn-App des Zivil- und Katastrophenschutzes. Oder die NINA-Warn-App, ein Angebot des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Doch selbst wenn die Prognosen genauer gewesen wären: Hätten sie die Bevölkerung in den Überschwemmungsgebieten ausreichend warnen können? Die warnenden Sender sowie die Empfänger seien gar nicht ausreichend geschult, um mit den Informationen umzugehen. Soll heißen: Es fehlt auch in der Bevölkerung an Wissen, wie man sich im Angesicht einer solchen Katastrophe verhalten soll.

“Push- statt Pull-Nachrichten würden eine stringente Kommunikationskette von den Behörden über die lokalen Einsatzkräfte bis hin zur Bevölkerung sicherstellen. Dazu muss außerdem die Lücke zwischen technischen Meldungen durch Behörden hin zu leicht verständlichen Texten für alle Generationen geschlossen werden“, schreibt die Zurich.

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Ein weiteres Problem: in vielen Gebieten fiel auch das mobile Internet aus, weil Sendemasten und Kabel ebenfalls beschädigt wurden. Hier empfehle sich das „Cell Broadcast“-System, das in vielen anderen Staaten bereits für Katastrophen-Warnungen eingesetzt werde. Hier wird automatisch eine Push-Nachricht an Menschen im Sendegebiet versendet. Das Problem: In Deutschland funktioniert die Technik bisher nur auf einem Bruchteil der genutzten Endgeräte, wie golem.de berichtet.

Flutkatastrophe kein singuläres Ereignis

Dass mit einer Flutkatastrophe in den betroffenen Gebieten hätte gerechnet werden müssen, zeigt ein anderer Fakt. Die Flutkatastrophe wurde von vielen der Betroffenen als ,beispiellos‘ und ,unvorhersehbar‘ beschrieben. Das treffe aber nicht zu. Im stark betroffenen Ahrtal gab es beispielsweise 1804 und 1910 Überschwemmungen von einem ähnlichen Ausmaß. Dies habe allerdings nicht zu den „nötigen Handlungen“ geführt. Wasserschutzpläne für die Regionen würden bis ins in die 1920er Jahre zurückreichen, aber umgesetzt wurden die Maßnahmen nie, so die Kritik. Stattdessen wurden die Hochwasser regelmäßig als „Jahrhundertereignisse“ klassifiziert: noch eine Überschwemmung im Ahrtal 2016, die eher glimpflich verlaufen sei.

„Offenbar geraten Extremwetterereignisse zu schnell in Vergessenheit", bemängelt Michael Szönyi, Leiter des Flood Resilience Program bei Zurich. „Die Fähigkeit, mit Naturgefahren umzugehen, hat bei der Bevölkerung insgesamt nachgelassen. Das Wissen, dass ein Hochwasser passieren kann und welche Ausmaße es annehmen könnte, muss daher stärker und dauerhaft bei den Menschen verankert werden", so der Experte. Er bemängelt, dass auch die Nachfrage nach Elementarschaden-Policen in der Bevölkerung wieder nachgelassen habe und auf dem Niveau vor der Flutkatastrophe verharre. Prävention und Nachsorge werden folglich aus Sicht des Experten vernachlässigt, ja geradezu verdrängt: ein Grund, weshalb die Zurich von "Flutdemenz auf allen Ebenen" spricht.

Gedenktage, Schulungen - und andere Bebauung

Hier helfen nach Ansicht des Experten Hochwasser-Gedenktage und visuell auffällige historische Hochwassermarkierungen. Auch Schulungen über die Gefährlichkeit solcher Ereignisse und Übungen zur Evakuierung müssten geplant werden, beispielsweise in Schulen. Der Umgang mit Alarmen, insbesondere auch Fehlalarmen, müsse eingeübt werden. Ebenso wichtig: In Hochwasser-Risikogebieten solle erst gar nicht gebaut werden. Denn eine Flut wie in Ahrtal sei eben kein singuläres Ereignis: Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass eine solche Katastrophe wieder auftrete.

Michael Szönyi warnt: „Die verbale Dramatisierung als singuläres Katastrophenereignis führt zu einer intuitiv falschen Einschätzung der Ereigniswahrscheinlichkeit. Gleichzeitig fokussiert die öffentliche Diskussion oft allein auf den Klimawandel als ursächlich für die Folgen dieser Extremwetterereignisse. Auch das verengt die Betrachtung unzulässig auf nur einen von zahlreichen Aspekten, die am Ende zu diesen Katastrophen führen. Die Prävention gerät aus dem Fokus.“

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Die Studie im vollen Umfang sowie ein Kurzbriefing können auf der Webseite der Zurich heruntergeladen werden.

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