Versicherungsbote: Viele große Versicherer sehen sich mittlerweile als digitale Vorreiter. Beispiel Allianz: Der Marktführer hat Milliarden in seine Digitalstrategie investiert. Wie realistisch ist die Einschätzung aus Ihrer Sicht? Sehen Sie die Branche auf einem guten Weg - oder ist da auch ein Stück weit Selbstbetrug dabei?

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Robin Kiera: Nichts ist leichter als eine Ankündigung, Milliarden in Digitalisierung zu stecken. Man deklariert einfach große Beträge des laufenden Betriebs als “Innovation”. Und nun gelten die Unsummen, die man in jahrzehntelanger, liebevoller Kleinarbeit aufgebaute marode IT-Architektur steckt, als Innovation. Anders ist die groteske Situation ja nicht zu erklären, dass wir als Branche Milliarden für “Digitalisierung” ausgeben, aber nicht eine einzige signifikante App, nahezu keinen Beitrag zu Ökosystemen und noch nicht mal einen erfolgreichen YouTube-Kanal vorweisen können.

Versicherer versuchen, individuelle Daten ihrer Kundinnen und Kunden besser zu nutzen, um passenden Schutz zu bieten. Tesla testet in den USA gerade eine Kfz-Police, für die Fahrdaten in Echtzeit ausgewertet werden: nach dem Fahrverhalten bemisst sich die Prämie, auf gängige Tarifmerkmale wird verzichtet. Bedeutet aber auch, dass durchgehend gemessen wird, wo die Person wann und wie fährt. Wird an solchen Tarifen bald kein Weg mehr vorbeiführen? Den passenden Schutz erkauft man sich ja auch um den Preis, zum gläsernen Verbraucher zu werden.

Solange wir Kunden nur homöopatische Vorteile bieten, können die Ewiggestrigen weiter behaupten: “Der Kunde will das doch gar nicht.” Sobald der Mehrwert für den Kunden höher ist als sein subjektiv empfundener Verlust der Privatsphäre, brechen hier alle Dämme. So wie es beim Erfolg von Facebook, Google oder TikTok war und ist. Ich wette mit jedem Produktvorstand um eine Kiste meines Lieblingsweins, dass, sobald ein Telematiktarif den Kunden 50 Prozent Ersparnis bringt oder mit einer Killer-App kombiniert wird, wir große Bewegungen im Markt sehen werden. Dann ist nur noch die Frage: Wer kann dann noch schnell mitziehen und welcher Versicherer bleibt auf der Strecke?

An Versicherer wird appelliert, sogenannte Ökosysteme zu erschaffen: Allround-Dienstleister und Begleiter des Kunden zu werden, statt nur Versicherungsschutz zu bieten. Beispiele sind Kfz-Versicherer mit angeschlossenen Werkstätten, Unfall-Apps und Leasing-Services. Sehen Sie aktuelle Trends, wo sich Versicherer als Ökosystem-Partner etablieren können? Wo werden Potentiale noch liegen gelassen?

Natürlich ist es schön, wenn ich nach einem Unfall eine fähige Werkstatt mit guten Fachleuten empfohlen bekomme. Aber hilft mir das als Mensch weiter? Nein! Wir Versicherer müssten viel tiefer ansetzen. Wir Versicherer verfügen über die begehrtesten Produkte und könnten Apple, Tesla und Tiktok im Aufmerksamkeitswettbewerb der Kunden schlagen. Wir machen nur einen miesen Job.

Versicherer verfügen über enormes Wissen, wie man seine und die Gesundheit seiner Familie schützt und wie man seine finanziellen Ziele, Wünsche und Träume erfüllt. Darüber hinaus bieten wir zufällig genau die Produkte, wie man sich gegen die Risiken des Lebens schützen kann. Dass wir Fitness-YouTubern und Finanz-Influencern es überlassen, sich dauerhaft für diese Themen in der Aufmerksamkeit der Kunden festzusetzen, während wir Milliarden für Werbung verballern, ist grotesk. Eigentlich müssten wir massenhaft Inhalte produzieren, die die Menschen wirklich interessieren: in Video-, Audio-, und Bildformaten, die sie sich wirklich konsumieren, und auf Kanälen, auf denen sie wirklich zuhause sind.

Ganz konkret: Stampft Facebook ein. Eröffnet ein Video-Team und greift auf Tiktok und LinkedIn an. Wer es noch nicht einmal schafft, dort zu sein, wo die Kunden sind - also auf Social Media -, der sollte sich keinen Kopf über Ökosysteme und eine eigene dominierende Rolle zerbrechen.

Wer es dennoch tut: Die wenigsten Ökosysteme entstehen durch Vorstandsbeschluss, sondern wachsen organisch und nicht nach Plan. Statt des x-ten Masterplans lieber mit kleinen Projekten die Fähigkeit erlangen, bei Ökosystemen Dritter zu partizipieren - durch hochwertigen Content und gute digitale Services. Wer das beherrscht, der wird früher oder später ein eigenes Ökosystem aufbauen können oder in einem anderen eine wirklich signifikante Rolle spielen.

Haben große Versicherer mit ordentlich Finanzkraft Vorteile, wenn es darum geht, sich als digitaler Dienstleister mit eigenem Ökosystem zu positionieren? Oder ist das auch für kleine und mittelständische Versicherer ein gangbarer Weg?

Mich beeindrucken eine Reihe kleinerer und mittelgroßer Versicherer mit einzelnen Initiativen oder mutigen Entscheidern. Ich glaube, wir erleben die Zeit der Macher und Macherinnen. Schauen Sie sich einmal die OCC Assekuradeur GmbH an. Von einem altehrwürdigen, aber leicht angeschlagenen Spezial-Anbieter zu einem digitalen Vorreiter mit einer echten Community und sogar echten Fans - innerhalb von 2 Jahren.

Auch erlaube ich mir den Spaß und google regelmäßig von fremden Computern “Zahnpflege” oder “Wie sorge ich für meinen Hund” - und fast immer finde ich die Deutsche Familienversicherung auf einen der Top-3-Plätze. Weit vor Gesundheitsfirmen und Tierinfluencern. Die DFV beherrscht SEO und Internet-Marketing einfach richtig gut. Das sieht man auch am Wachstum.

Ferner sehen wir mit der LV1871 im Lebensversicherungsbereich einen Akteur, der seit Jahren überproportional wächst und mit smarten Maklerkonzepten und ungewöhnlichen Aktionen dauerhaft fast unrealistische Wachstumszahlen präsentiert.

Natürlich bemühen sich auch Allianz, AXA, R&V, Generali und die Versicherungskammer Bayern - aber große Dampfer in Hyperschallraketen zu verwandeln, ist nicht einfach. Aber auch dort sehe ich top Entscheider, die es wirklich versuchen und Erfolge feiern.

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Allerdings gibt es auch manche Häuser, bei denen Entscheider noch vor Kurzem gegen Apps wetterten und sich jetzt als digitale Innovatoren präsentieren - bei denen man aber weiß, dass sich dort gar nichts tut. Hier wäre es Aufgabe der Aufsichtsgremien, die überforderten Akteure von ihrem Leid zu erlösen.

"Social Media ist keine zusätzliche Arbeit"

Versicherungsbote: Wie können sich Versicherungsmakler als Allround-Dienstleister positionieren? Viel wird aktuell über Servicevereinbarungen diskutiert: Wo sehen Sie hier Potentiale?

Robin Kiera: Die Idee ist super: Wie können wir unsere Wertschöpfungskette erweitern? Aber ob der formalisierte Weg über noch mehr Papier und Verträge zu Begeisterungsstürmen beim Kunden führen wird, wage ich zu bezweifeln.

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Besonders im Privatbereich sind Kunden dramatisch unterversorgt. Im Median verfügt der Deutsche über 61.000 EUR Nettovermögen. Rund 30 Prozent der Deutschen liegen bei 0 oder sind überschuldet. Die Versicherungsindustrie könnte mit Wissen und Produkten eine aktive Rolle beim Vermögensauf- und Ausbau und bei der Absicherung leisten. Gerade Makler und Vermittler könnten zum Sparringspartner ihrer Kunden werden und sie auf Jahrzehnte begleiten. Kunden würden so etwas zahlen, wenn es in Zusammenhang mit ihren Wünschen und Visionen stünde.

Laut dem „Maklerbarometer 2021“ aus dem Hause Policen Direkt sagen Versicherungsmakler, dass sie mittlerweile in Summe mehr Zeit für IT und Bürokratie aufwenden als für die Beratung des Kunden. Details, welche digitalen Tätigkeiten damit verbunden sind, nennt die Studie nicht: aber Social Media dürfte hierbei eine wichtige Rolle spielen. Aus Ihrer Sicht eine Fehlentwicklung? Oder gehören Kundenberatung und digitale Strategien zusammen?

Social Media ist ja nicht IT oder Administration - sondern knallharter Vertrieb. Social Media ist die Telefonaktion in 2022. Wer dauerhaft auf dem Radar seiner Kunden ist, mit Inhalten, die ihn interessieren, mit Formaten, die sie schauen und auf Kanälen, wo sie wirklich sind, wird sich vor Geschäft nicht retten können.

Es kann aber nicht sein, dass “Digitalisierung” zu mehr Bürokratie führt. Jede IT und jeder Prozess sollte zu einer Flut an Dankesschreiben von Maklern und Vermittlern an ihre Häuser und Pools führen, da ihnen das Leben dramatisch erleichtert wurde. Tut es aber selten.

Ein interessantes Phänomen: Nie zuvor waren die Kanäle so zahlreich, mit denen man auf sich und seine Dienstleistungen aufmerksam machen kann. Und zugleich die Gefahr so groß, in der Masse der Veröffentlichungen unterzugehen. Ein Beispiel: Allein bei YouTube werden an jedem Tag im Schnitt 720.000 Stunden neues Videomaterial hochgeladen. Empfehlen Sie Maklern, hier professionelle Hilfe zu suchen, um mit ihrer Strategie nicht im Social-Media-Dschungel unterzugehen? Braucht es auch hierfür den richtigen Partner - und wo findet man den?

Social Media ist nicht für jeden. Nur für Leute, die verkaufen wollen. Social Media sind keine bunten Bildchen, sondern es ist der aktuelle Zustand der Aufmerksamkeit der Kunden - und da sollten alle Vertriebler sein. Am besten, ein Vermittler fängt an Inhalte auf Kanälen seiner Kunden zu konsumieren und herauszufinden, was sie wirklich interessiert. Dann sollte er 2-4 Stunden pro Woche in die Erstellung von eigenem Content investieren. Zur Erinnerung: Das ist keine zusätzliche Arbeit, sondern der Weg zu mehr Umsatz.

„Mehr verkaufen durch Attention Hacking“, nennt sich Ihr aktuelles Buch, das schwerpunktmäßig Social-Media-Strategien im Vertrieb thematisiert. Mit „Hacking“ assoziiere ich jemanden, dass sich unerlaubt Zutritt zu Systemen verschafft, es klingt sogar leicht übergriffig. Klären Sie uns auf: Warum muss man in Social Media als „Hacker“ auftreten, um beachtet zu werden?

Mit Attention Hacking erreicht man Menschen mit Inhalten, Formaten und Kanälen, die sie wirklich interessieren, während ein Großteil der Industrie noch in längst untergegangenen Kategorien denkt und dort Geld verpulvert.

Als 2007 Google Adwords startete, kosteten der Begriff “KFZ-Versicherung” und ein Kunde wenige Cent. Attention Hacking ist die Methode, wie Sie das aktuelle Google von 2007 für sich heute finden. Das ist natürlich nur interessant für Leute, die Versicherungen verkaufen wollen.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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