Die gesetzliche Pflegeversicherung muss dringend reformiert werden: Dies fordert Gernot Kiefer, Vizevorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, in einem Interview mit dem „Handelsblatt“. Ohne Reform drohen die Kosten zulasten der Beitragszahler, aber auch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zu explodieren, warnt der Sozialwissenschaftler. „Die Probleme sind so gravierend, dass sie keinen Aufschub mehr dulden“, so Kiefers Diagnose. Nicht zu handeln, sei keine Option.

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Schon im kommenden Jahr fehlen zwei Milliarden Euro

Zwar gibt Kiefer zunächst Entwarnung: In diesem und im kommenden Jahr würden sich die Finanzen der Pflegekassen besser entwickeln als erwartet. So würden die Pandemieausgaben in diesem Jahr nur fünf Milliarden Euro betragen statt der erwarteten sechs Milliarden, weil die gute Konjunktur vermehrt Gelder in die Pflegekassen spüle. Aber schon in 2022 fehlen rund zwei Milliarden Euro: Pandemieausgaben nicht eingerechnet.

Der erste Lösungsvorschlag Kiefers: mehr Geld vom Bund. Die Kassen plädieren dafür, dass sich der Bund stärker und dauerhaft an den Ausgaben beteilige, die nicht zum Kern der Aufgaben einer Pflegeversicherung gehören, erklärt der Funktionär. Ein Beispiel seien die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, für die allein im kommenden Jahr drei Milliarden Euro anfallen würden. Diese Beiträge seien eine staatliche Sozialleistung und müssten durch einen Bundeszuschuss gegenfinanziert werden.

Pflegebedürftige stark belastet

Kiefer kritisiert, dass die steigenden Kosten in der Pflegeversicherung derzeit vor allem von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen geschultert werden mussten. Tatsächlich steigen die Eigenanteile, die vollstationär untergebrachte Bedürftige in Pflegeheimen zahlen, seit Jahren stark an. Im Juli 2021 mussten im Bundesschnitt bereits 2.125 Euro pro Monat gezahlt werden, so geht aus Daten der Ersatzkassen hervor. Im Juli 2018 waren es noch 1.795 Euro: ein Anstieg um knapp 18,4 Prozent binnen drei Jahren.

Zwar wird zumindest der Pflegeanteil nach einer Gesetzreform stufenweise gedeckelt: im zweiten Pflegeheim-Jahr soll er um 25 Prozent sinken, nach 24 Monaten um die Hälte, nach 36 Monaten um 75 Prozent. Aber das wird die Pflegebedürftigen nur teilweise entlasten. Denn zusätzlich kommen beim Eigenanteil noch Unterkunftskosten, Kosten für das Essen und speziell Investitionskosten der Pflegeheime hinzu. Alleine der Investitionszuschlag koste die Pflegebedürftigen aktuell 450 Euro im Monat, berichtet Kiefer. Hier sollen die Bundesländer ihrer Pflicht nachkommen, verstärkt in die Pflegeinfrastruktur zu investieren.

“Die neue Koalition muss die Eigenanteile sozial ausgewogen deutlich nach unten fahren“ , fordert der GKV-Vize. Eine Möglichkeit wäre, die Eigenanteile stärker an das Alterseinkommen zu koppeln: Starke Schultern müssten dann mehr tragen. Ohne Weiterentwicklung des Modells drohe zudem, dass die Pflegeversicherung die steigenden Beiträge schultern müsse, wenn die Pflegebedürftigen entlastet werden. Ohne steigende Bundeszuschüsse müsste dann der Pflegebeitrag in den kommenden Jahren stark steigen. Dann sei auch die sogenannte Sozialgarantie der scheidenden Bundesregierung nicht mehr zu halten, wonach die Beiträge zur Sozialversicherung nicht über 40 Prozent des Bruttoeinkommens klettern sollen.

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Die steigenden Pflegekosten resultieren zum Teil daraus, dass die Bevölkerung altert: Im fortgeschrittenen Alter steigt auch das Risiko, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Die große Koalition hat zudem im letzten Jahr ein teures Gesetzespaket erlassen: Demnach sollen mehr Pflegekräfte eingestellt und besser bezahlt werden, da bundesweit tausende Stellen unbesetzt bleiben: und viele Pflegerinnen und Pfleger wegen der hohen Belastung aus ihrem Beruf ausscheiden. Auch Nachbesserungen bei der ambulanten Pflege sind geplant.

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