Die Union in freiem Fall, die SPD in ungeahntem Aufwind. Wer in diesen Tagen Rot wählt, wählt den Kanzler für bezahlbares Wohnen, stabile Renten, faire Mieten, Kompetenz für Deutschland. So versprechen es zumindest die Wahlplakate. Und tatsächlich: Olaf Scholz führt das Kanzler-Ranking an – eine rotgrüne Regierung scheint alles andere als ausgeschlossen. Doch was bedeutet das für die Versicherungsbranche?

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Provisionen? Nein, danke!

Martin Gräfer ist Mitglied des Vorstandes der Versicherungsgruppe die Bayerische und Vorstandsvorsitzender der BA die Bayerische Allgemeine AG, die Komposit-Gesellschaft der Gruppe.Versicherungsgruppe die BayerischeWas Scholz von der Versicherungswirtschaft und insbesondere deren Berater hält, hat er im Frühjahr dieses Jahres eindrucksvoll bei Anne Will bewiesen. Dort rückte er den Provisionsdeckel in die Nähe der „CDU-Maskenaffäre“ und unterstellte Bundestagsabgeordneten, die sich gegen ein solches Gesetz ausgesprochen hatten, dies nicht aus „allgemeinen Erwägungen“ heraus, sondern aus mangelnder Distanz zu den „Provisions-Kassierern“ getan zu haben. Scholz plädiert bereits seit geraumer Zeit für die Einführung des Provisionsdeckels. Erreichen möchte er damit, dass Fehlanreize durch seiner Meinung nach „überhöhte Provisionen“ vermieden werden. Damit bringt er nicht nur einen ganzen Berufsstand in Verruf, sondern macht auch unmissverständlich deutlich, was er von der Arbeit der VersicherungsvermittlerInnen hält.

Ich frage mich oft, was Olaf Scholz im Kopf herumspukt, wenn er an einen „Provisions-Kassierer“ denkt. Strukturvertriebe, Männer und Frauen, die im Ferrari vorfahren und ihre Kunden bis auf die Unterhose ausziehen oder hat er bei diesem Berufsstand sonstige Schurken und Ganoven vor Augen? Sehr gerne würde ich Herrn Scholz oder eine(n) seiner Parteigenossen oder Parteigenossinnen einladen, einmal einen Vertrieb zu besuchen und sich selbst ein Bild davon zu machen, was eine Beratung zu einer Versicherung umfasst. Die Produkte werden zunehmend komplexer – auch durch zahlreiche sinnvolle oder weniger sinnvolle politische Anforderungen – die Vermittlung damit insgesamt immer anspruchsvoller. Zudem steht der Vermittler gegenüber seinem Kunden in der Pflicht. Dazu gehört eine fundierte und individuell auf die Bedürfnisse des Versicherungsnehmers abgestimmte Beratung inklusive einer vollumfänglichen Dokumentation. Außerdem muss er Verträge während der gesamten Laufzeit stets auf notwendige Änderungen prüfen und gegebenenfalls den Kunden darüber unterrichten – beispielsweise bei einer bestehenden Unterversicherung. Tut er dies nicht und entsteht dem Kunden daraus ein Schaden, haftet der Berater auf Schadensersatz. Insgesamt birgt dieses Berufsbild einen äußerst hohen Grad an Verantwortung.

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Der Wert einer ganzheitlichen Beratung ist hoch, ebenso der Wert einer langjährigen Beziehung zum Vermittler. In allen beratenden Berufen bezahlt man für deren Qualität. Warum sollte dies bei Versicherungen anders sein? Dieser Logik folgend, dürften auch Automobilverkäufer, Sales Manager oder Call-Center-Agents keine Provisionen mehr verdienen, um nur ein paar Berufsbilder zu nennen, die oftmals provisionsbasiert agieren.

Es braucht mehr Liberalismus bei der Frage der Vergütung

Es sollte sich hier also nicht die Frage nach Verboten oder staatlichem Eingreifen stellen, sondern vielmehr braucht es mehr Liberalismus bei der Frage der Vergütung. Alle, die sich mit dem Vertrieb und der Beratung von Versicherungsprodukten beschäftigen, und das unabhängig vom Vermittlerstatus, sollten auf sämtliche Vergütungsformen zurückgreifen können. Natürlich immer - und mit klarer Transparenz - gemeinsam in Abstimmung mit den Kunden. Hier braucht es freiwillige Regelungen innerhalb der Branche. Wir als Versicherer könnten uns dann verpflichten, nur mit den Vermittlern oder Beratungsorganisationen zusammenzuarbeiten, die sich diesen Standards verpflichtet fühlen. Eine gesetzliche Begrenzung von Provisionen - und das ohne die individuelle Situation in der Beratung wirklich zu berücksichtigen - ist Unfug und wohl auch verfassungsrechtlich kaum haltbar. Aber man kann durchaus für den Impuls und die Motivation, derart in einen Markt einzugreifen, Verständnis haben. Es ist uns als Branche bisher nicht gelungen, glaubwürdig deutlich zu machen, dass die oft zitierten „Provisionsexzesse“ entweder ein Märchen oder ein Relikt vergangener Zeiten sind.

Ein Bürgerfonds wird’s richten

Mit großer Bestürzung muss ich auch immer wieder feststellen, dass sowohl von Seiten der SPD als auch der Grünen die private Rentenversicherung öffentlich in Frage gestellt, der Riester-Rente sogar eine klare Absage erteilt wird. Die Lebensversicherer hätten selbst bewiesen, dass ihr Geschäftsmodell heute nicht mehr funktioniere, nicht zuletzt deshalb, weil die Kosten – auch hier steht häufig der Vertrieb im Vordergrund – viel zu hoch seien. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) sei viel attraktiver, böte höhere Rendite und mehr Sicherheit! Dies führt nicht nur zu großer Unsicherheit unter den Menschen, sondern auch zur Frage: Was kommt dann?

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Geht es nach den Grünen, soll ein öffentlich verwalteter Bürgerfonds das Problem der Altersarmut lösen und zum Standardprodukt für die private und betriebliche Altersvorsorge werden. Jeder Bürger, der nicht aktiv sein Veto einlegt, soll darin einzahlen. Dadurch sollen Verwaltungskosten gering gehalten werden. Garantien sind nicht vorgesehen, das Risiko soll durch breite Streuung gesenkt werden.

Die Riester-Rente bezeichnen die Grünen öffentlich als ein „Problem“, die privaten Rentenversicherungen werden als Bereicherung für Versicherungsunternehmen und Berater gesehen. In einem 2019 in „Zeit online“ erschienenem Beitrag von Robert Habeck und Sven Giegold ist in Bezug auf Riester die Rede von „geringen Renditen, hohen Vertriebs- und Verwaltungskosten und teuren Zinsgarantien.“ Ein Abschluss lohne sich in vielen Fällen nicht einmal mit der staatlichen Förderung. Den Bürgern wird Unmündigkeit unterstellt, da eine Vielzahl von ihnen die „undurchsichtigen privaten Rentenversicherungen mit ihren komplizierten Regeln nicht mehr durchschauen (...)“. Aus Sicht von Habeck und Giegold ist die Folge, „dass Bürger von Finanzberatern schlechte Produkte verkauft bekommen. Die Berater erhalten so einträgliche Provisionen für Produkte, die für den Kunden schlecht oder ungeeignet sind.“

Diese Unwissenheit und Arroganz von Seiten der Politik bereitet mir Sorge. Doch damit nicht genug. In der öffentlichen Diskussion stehen oftmals die Rückstellungen der Lebensversicherer im Fokus. Der Vorwurf: Sie reichen in Zukunft nicht mehr aus, um die künftigen Verpflichtungen der Versicherer zu erfüllen. Das Fatale: Die gesetzliche Rentenversicherung verfügt über gar keine entsprechenden Rückstellungen. Einen Monat ohne Beitragseingang und das System steht still.

Rentenreformen sind unabdingbar

Etwas zu kurz gedacht, hat die Politik auch in punkto der vermeintlich hohen Kosten der privaten Altersversorgung. Die über die Jahrzehnte versprochenen und gehaltenen Garantien und Überschussbeteiligungen wären auch dann nicht mehr abbildbar, wenn die Lebensversicherer überhaupt keine Kosten mehr hätten. Schuld daran ist das niedrige Zinsniveau. Dieses ebenfalls in die Verantwortung der Versicherer zu stellen, wäre vermessen. In einer nicht staatlich regulierten Welt gibt es keine negativen Zinsen für langlaufende Staatsanleihen. Dies war für niemanden absehbar. Opfer sind dabei im Übrigen weniger die Versicherer, Banken und Bausparkassen selbst, sondern vor allem deren Kunden.

Rentenreformen sind unabdingbar

Die Rente muss dringend reformiert werden und ich rufe unsere Branche dazu auf, hier aktiv mitzudenken. Es ist sehr bedauerlich, dass die Politik sehenden Auges eine von ihr initiierte und sehr erfolgreiche Form der ergänzenden Altersvorsorge zu Grunde gehen lässt. Die Riester-Rente leistet einen wichtigen sozialpolitischen Beitrag und lohnt sich entgegen jeder Wutrede aus dem Bundestag für viele Bevölkerungsschichten. Mit dem neuen Höchstrechnungszins von 0,25 Prozent kann die Brutto-Beitragsgarantie jedoch nicht mehr dargestellt werden. Hier sind Veränderungen notwendig, wie beispielsweise die Senkung der Garantie auf ein Niveau von 70 Prozent oder die Erhöhung der Zulagen, was durch die Politik blockiert wird. Aus diesem Grund wird es Riester voraussichtlich ab dem 01. Januar 2022 in dieser Form nicht mehr geben.

Gestatten Sie mir die Frage, warum die Politik damals anstelle von Riester keine staatliche Bürger-Rentenversicherung eingeführt oder das Geld in einen Bürgerfonds eingezahlt hat? Die Antwort ist einfach: Zu dieser Zeit war die Politik reflektiert genug zu verstehen, dass sie selbst nicht alles besser kann. Vielmehr sah man die Notwendigkeit, sowohl das Angebot für die Bürger als auch die Verantwortung für die Kapitalanlage auf die Schultern vieler Unternehmen zu verteilen, um auf diese Weise das Risiko für einen volkswirtschaftlich bedrohlichen Kollateralschaden so gering wie möglich zu halten.

Eine Erkenntnis, derer sich die heutigen Akteure dringend wieder bewusst werden sollten. Lebensversicherungen sind Produkte der und für die freie Marktwirtschaft. Staatliche Allmachtsphantasien sind hier genauso fehl am Platz wie aus Überheblichkeit und Unwissenheit resultierende Stammtischparolen.

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Nur die Politik zu beklagen, ist aber keine Lösung. Viele Politikerinnen und Politiker machen ihren Job sehr ernsthaft und sind bestrebt, unser Land weiterzuentwickeln. Zu unserem Image haben wir als Versicherungsbranche in der Vergangenheit einen nicht unerheblichen Teil selbst beigetragen. Daher müssen wir jetzt gemeinsam Wege finden, das Vertrauen in die Branche und Produkte wieder herzustellen. Nur so kommen wir einer Verbotspolitik zuvor, deren Folgen für uns, unsere Kunden und den Markt nicht abschätzbar sind. Ich rufe daher die gesamte Branche dazu auf, mit vereinten Kräften Neues auszuprobieren, Innovationen zu adaptieren und sich mit Gleichgesinnten und Partnern zusammenzutun, um gemeinsam die Ziele einfacher und schneller zu erreichen.

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