Versicherungsbote: Mein Eindruck: Fast alle Parteien, die zur Bundestagswahl 2021 antreten, halten das Rentensystem und die Altersvorsorge für reformbedürftig. Würden Sie für Ihre Partei zustimmen — weshalb muss der Status Quo verändert werden?

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Markus Kurth: Die nächste Bundesregierung wird darüber entscheiden müssen, ob die gesetzliche Rentenversicherung ihre heutige hohe Leistungsfähigkeit langfristig erhalten kann – oder aber ob das Rentenniveau in wenigen Jahren dramatisch fallen wird. Damit verbunden ist auch die Frage, inwiefern Pflichtbeiträge an die Rentenversicherung noch zu rechtfertigen sind. Kann sie nach langen Beitragszahlungen den Lebensstandard nicht mehr weitgehend sichern, wird sie in eine Legitimationskrise rutschen. Aus unserer Sicht ist das Rentenniveau deshalb unbedingt auf Dauer stabil zu halten. Daneben gibt es noch weiteren Reformbedarf, Verbesserungen bei der Grundrente, mehr Sicherheit für Erwerbsgeminderte oder eine fairere kapitalgedeckte Altersvorsorge zum Beispiel.

Welche Elemente im Rentensystem wollen Sie beibehalten, weil Sie sagen: Das hat sich so bewährt?

Es gibt weltweit nur wenige soziale Sicherungssysteme, die sich über einen so langen Zeitraum und über alle Krisen hinweg so bewährt haben wie die gesetzliche Rente. Ihre Stärke ist die Kombination aus Versicherungsprinzip und solidarischem Ausgleich. Kein Produkt privater Anbieter bietet ein solch starkes Gesamtpaket, ein großes Leistungsspektrum bei einer gleichzeitig dauerhaft vergleichsweise hohen Rendite bei Altersrenten. Das ist übrigens auch ein Grund, warum wir Grüne es für richtig halten, weitere Personengruppen in die Rentenversicherung einzubeziehen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Müssen die Bundesbürger Altersarmut fürchten — und was kann dagegen getan werden?

Der Union ist es in 16 Jahren Regierungsverantwortung - davon zwölf Jahre gemeinsam mit der SPD – nicht gelungen, die Armut in Deutschland zu reduzieren. Dieses Ergebnis bescheinigt sich die große Koalition mit dem jüngst erschienenen Armuts- und Reichtumsbericht selbst. Und die kommenden Jahrzehnte werden eine Zeit der Umbrüche: Die dringend notwendige Ökologisierung der Wirtschaft, die Digitalisierung und der demographische Wandel werden den Arbeitsmarkt und die Erwerbsbiographien verändern. Um zu vermeiden, dass diese Entwicklungen zu einer Zunahme von Altersarmut führen, sind umfassende arbeitsmarktpolitische und rentenpolitische Maßnahmen notwendig. Wir fordern etwa, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln und ein Recht auf Weiterbildung einzuführen, um die Aufstiegschancen zu verbessern und Menschen auch nach Umbrüchen eine berufliche Perspektive zu eröffnen.

Rentenpolitisch wollen wir, neben der schon angesprochenen Stabilisierung des Rentenniveaus, die Grundrente reparieren, das heißt sie weniger komplex als heute ausgestalten und deutlich mehr Menschen eine Rente oberhalb der Grundsicherung ermöglichen. Zudem sehen wir vor, einen arbeitgeberfinanzierten Mindestbeitrag an die gesetzliche Rentenversicherung einzuführen. Geringverdienende können so nach langer Beitragszahlung in jedem Fall eine recht gute Rente erwarten.

Mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute, u.a. das DIW Berlin, plädieren dafür, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rente an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Die Begründung: immer mehr Rentnerinnen und Rentner stehen weniger Erwerbspersonen gegenüber. Werden die Deutschen künftig länger arbeiten müssen? Wenn nein: Was wären Alternativen, um eine längere Lebensarbeitszeit abzuwenden und dennoch den Rentenbeitrag stabil zu halten?

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Bevor man an eine weitere Anhebung des Rentenalters denkt, sollte man erst mal an den anderen Stellschrauben drehen. Bereits für die Akzeptanz der schon getroffenen Entscheidung, die Regelaltersgrenze auf 67 Jahre anzuheben, ist es entscheidend, differenzierte Lösungen für die vielfältigen Belastungen in unterschiedlichen Berufen und Arbeitsfeldern zu schaffen. Wir wollen deshalb die Teilrente attraktiver machen, unter anderem indem wir die Abschläge für besonders belastete Beschäftigte streichen. Die Möglichkeiten auch umfangreicher Weiterbildungen für Ältere sind zu erweitern. Die Erwerbsminderungsrente wollen wir stärken. Präventionsmaßnahmen müssen zum Standard werden und gemeinsam mit der Rehabilitation einen noch größeren Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit leisten. Zudem braucht es dringend eine Analyse der spezifischen Belastungen einzelner Berufsgruppen.

"Zentral für faire Renten ist die Arbeitsmarktpolitik"

Versicherungsbote: Jeder fünfte Deutsche erreicht das Rentenalter nicht, so geht aus Zahlen der Deutschen Rentenversicherung hervor. Eine geringere Lebenserwartung korreliert mit niedrigen Einkommen, brüchiger Erwerbsbiographie und auch körperlich schweren Tätigkeiten. Zugleich erwarten ganze Branchen im Schnitt niedrige Renten: Unterdurchschnittliche Rentenansprüche werden zum Beispiel in der Altenpflege, im Einzelhandel und in der Landwirtschaft erwartet. Droht hier ein Gerechtigkeitsdefizit - wenn ja, wie kann gegengesteuert werden?

Markus Kurth: Die Rente spiegelt das Erwerbsleben wider. Die Möglichkeiten, die dortigen sozialen Schieflagen über das Rentenrecht auszugleichen, sind deshalb zwar begrenzt, aber vorhanden: Die Grüne Garantierente ist eine unserer Antworten auf geringe Löhne und gebrochene Erwerbsbiographien. Jede und jeder erhält mit der Garantierente bereits nach dreißig Versicherungsjahren in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente oberhalb der Grundsicherung. Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Pflege oder der Kindererziehung berücksichtigen wir dabei und erreichen so mehr Menschen als mit der Grundrente, und das unbürokratischer. Auch die schon angesprochene so genannte Mindestbeitragsbemessungsgrundlage kann einen Beitrag zum sozialen Ausgleich innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung leisten.

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Zentral ist die Arbeitsmarktpolitik: Wir wollen dafür sorgen, dass es für Beschäftigte faire Löhne und gesunde Arbeitsbedingungen gibt, dass die Arbeit gut ins Leben passt und Frauen für gleichwertige Arbeit den gleichen Lohn wie Männer bekommen. Außerdem muss gute berufliche Weiterbildung für alle möglich sein. Leiharbeit, Minijobs und befristete Jobs wollen wir eindämmen. Ein wichtiger Hebel, um diese Ziele zu erreichen, ist die Stärkung der Tarifbindung.

Wie positioniert sich Ihre Partei zu einer Altersvorsorge-Pflicht für Selbstständige – und wie könnte diese gestaltet sein? Mindestens 700.000 Selbständige sorgen nicht für ihr Alter vor, so eine DIW-Studie. Dennoch haben diese Menschen im Alter Anrecht auf Grundsicherung und werden mit Steuergeldern aufgefangen.

Ich halte die Versicherungspflicht derjenigen Selbstständigen in der gesetzlichen Rentenversicherung, die nicht anderweitig über eine Pflichtversicherung (z.B. ein berufsständiges Versorgungswerk) abgesichert sind, für einen elementaren und längst überfälligen Schritt. Schon heute wechseln Erwerbstätige im Laufe ihres Erwerbslebens zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit. Durch den Wandel der Arbeitswelt wird diese Tendenz zunehmen. Hier bietet die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenkasse Selbstständigen eine durchgängige, lückenlose Sicherung mit attraktiver Rendite und mit dem gesamten Leistungsspektrum der Rentenversicherung – das Selbstständige auch gegen Lebensrisiken, wie Krankheit, Pflegebedarf, Erwerbsminderung, Alter, Tod des Partners bzw. der Partnerin oder Auftragslosigkeit absichert. Ich halte dies für eine sehr sinnvolle und einfache Lösung.

Im Falle einer Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung würden derjenigen Selbstständigen, die dauerhaft nur geringe Beiträge einzahlen können, durch die Grundrente bzw. eine künftige Garantierente immerhin eine Mindestabsicherung bekommen. So würde auch der Schutz des Systems der sozialen Sicherung etwa Solo-Selbständige einschließen, mit wenigen Auftraggeberinnen und Auftraggebern und die sich häufig keinen ausreichenden Sozialschutz leisten können, damit die Verantwortung nicht auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verlagert wird.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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