Sehen, Hören, Gehen, Sprechen, Denken ("klar" und "strukturiert", „logisch“): viele angeborene Fähigkeiten sind für menschliches Handeln grundlegend. Auch ist die Ausübung vieler Berufe bei Verlust einer Grundfähigkeit unvorstellbar. Lokführer*innen, die nicht mehr sehen? Lehrer*innen, die die Fähigkeit zum Sprechen verlieren? Handwerker*innen, die nicht mehr greifen können? Die Grundfähigkeitsversicherung setzt an derartigen Risiken an und soll Berufstätige vor dem Verlust der Grundfähigkeiten absichern.

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Und der Markt boomt. Nach ersten Startschwierigkeiten – die Produkte wurden ab dem Jahr 2000 in Deutschland eingeführt – steigt nun immer mehr die Zahl der Tarife und Tarifoptionen. Darauf weist ein aktueller Beitrag aus dem Hause Assekurata hin. Allerdings führt die größere Vielfalt auch zur größeren Qual bei der Auswahl.

Phantasie zulasten der Vergleichbarkeit

Denn Produktentwickler definieren mittlerweile mit viel Phantasie die Leistungsauslöser, um sich am Markt von Konkurrenten abzuheben (Versicherungsbote berichtete). Dieser Abgrenzungswille aber geschieht zum Nachteil der Produkte: Statt dass Standards entwickelt werden, streben die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der Anbieter immer mehr auseinander.

Auch werden die Leistungsauslöser immer komplexer definiert – jedoch oft nicht im Dienste der Eindeutigkeit. Dass demnach schwer einzuschätzen ist, wann ein konkreter Leistungsanspruch entsteht, veranschaulicht Assekurata-Experte Arndt von Eicken anhand mehrerer Beispiele.

Beispielsweise lautet eine Klausel aus dem Vertragswerk eines Anbieters zur Grundfähigkeit des Greifens und Haltens: "Die versicherte Person kann nicht mit der rechten oder der linken Hand oder mit beiden Händen eine Tasse greifen, halten und daraus trinken.“ Von Eicken bemerkt hierzu, es stelle sich „allein schon die Frage, wie schwer beziehungsweise groß die Tasse sein darf“. Der Umstand, dass der versicherten Person auch zugemutet werden kann, mit beiden Händen die Tasse zu greifen, erschwere es zudem, den Leistungsauslöser zu erreichen.

Abweichende Auslegungen sind vorprogrammiert

Ebenso mehrdeutig ist für den Assekurata-Experten eine Klausel zum Knien und Bücken. Sie lautet: "Die versicherte Person ist nicht mehr in der Lage, sich aus eigener Kraft zu bücken oder hinzuknien, um den Boden zu berühren, und sich danach wieder aufzurichten." Zwei Grundfähigkeiten – Knien und Erheben oder Bücken und Erheben – gelten hier als leistungsauslösend. Doch die Klausel leidet ebenfalls unter Vagheiten.

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So ist nicht deutlich, ob das Knien mit einem Knie oder mit beiden Knien ausgeführt werden soll. Auch ist nicht eindeutig, ob das Knien oder Aufrichten durch oder ohne Abstützen erfolgen soll. Von Eicken pointiert: „Abweichende Auslegungen in der Leistungsregulierung“ sind „vorprogrammiert.“

Wenzel: Mehrdeutige Klauseln gehen Zulasten des Verwenders

Wie aber sind derart vage Klauseln zu bewerten? Für den Fachwirt Philip Wenzel ist die Sache eindeutig: Sie gehen zulasten des Verwenders gemäß Paragraf 305 c (2) Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Wenzel führt diese Überlegung in einem Sonderheft aus, das dem Printmagazin 1/2020 des Versicherungsboten beigegeben wurde.

Die Versicherer tun sich mit solchen Klauseln also selbst keinen Gefallen, sondern riskieren Rechtsstreitigkeiten mit ungünstigem Ausgang. Die Frage für Makler allerdings sollte lauten, ob man die Kunden einem Rechtsstreits mit ungewissen Ausgang aussetzen will. Und dies kann auch nicht im Sinne des Experten Wenzel sein – weswegen er beim Versicherungsboten verschiedene Klauseln der Grundfähigkeitsversicherung auf ihre Aussagekraft und Eindeutigkeit abklopft. So hebt er einige Klauseln auch als besonders gelungen hervor.

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Wo Schatten ist, muss Licht sein?

Von Eicken stimmt hier mit Wenzel überein. Er schreibt: „Wo Schatten ist, muss auch Licht sein, sagt man bekanntlich und in der Tat finden einzelne Anbieter den Weg hin zu neuen, klaren Leistungsvoraussetzungen.“

Ein Beispiel einer solchen gelungenen Leistungsvoraussetzung sieht er bei der Nürnberger Versicherung: "Die Fähigkeit der versicherten Person, mit einer Hand einen Gegenstand zu greifen und zu halten, ist zumindest an einer ihrer beiden Hände stark beeinträchtigt. Das bedeutet, dass sie mit der linken oder mit der rechten Hand nicht mehr in der Lage ist, einen leichten Alltagsgegenstand (z. B. ein leeres Wasserglas, einen Stift oder einen Kochlöffel) zu greifen und ununterbrochen für fünf Minuten, auch unter Ablage des Unterarms, in der Luft zu halten, ohne dass er ihr aus der Hand fällt.“

Von Eicken schreibt: „Mit dieser Festlegung werden neben der Fingerfertigkeit auch die Kraft und die Ausdauer gewürdigt. Kann der Versicherte demnach zum Beispiel den Stift gar nicht erst greifen, kommt es zu einem Leistungsauslöser, da der Pinzettengriff nicht mehr funktioniert. Fehlt es an der Ausdauer, den Gegenstand fünf Minuten zu halten, kommt es ebenfalls zum Leistungsauslöser und kann der Versicherte nicht fest genug zufassen, um das Wasserglas zu fassen, fehlt es an der nötigen Kraft und es kommt wiederum zum Leistungsauslöser.“

Nun ist diese Sichtweise plausibel und gut begründet. Ebenso plausibel ist aber die Sicht von Philip Wenzel auf die selbe Klausel der Nürnberger Versicherung. Anders als von Eiken stellt Wenzel diese Klausel aber als besonders misslungen heraus: Zwar gefällt es ihm, wenn „ich mir aussuchen kann, welchen Gegenstand ich nicht mehr halten kann.“ Just für diese Formulierung aber schiebt er nach „Aber ich weiß ja auch, wie ich mit Hilfe des Paragrafen 305 c (2) Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auslegungsbedürftige Begriffe zu meinen Gunsten interpretieren kann.“ Statt der mehrdeutigen Formulierung wäre es aus Wenzels Sicht besser, wenn der Versicherte „ein Seil der Stärke x cm mit einem Gewicht von x kg für x Minuten halten“ müsste, ohne dass dieses Seil „mehr als x cm verrutscht“. Und wenn der Versicherte dies nicht mehr kann, erhält er die vertraglich zugesicherte Rente als Leistung.

Zwei Experten – zwei Meinungen

Man könnte diskutieren, welcher Position man eher zustimmen würde – dem Lob oder dem Tadel der Formulierung. Und doch beunruhigt die Tatsache, dass zwei ausgewiesene Experten die gleiche Klausel vollkommen konträr bewerten. Im Grund zeigt sich hier jenes Problem, welches durch die Experten selbst kritisiert wird: Die Grundfähigkeitsversicherung leidet an fehlenden Standards.

Und der Teufel steckt nun für die Makler im Detail eines Deutungsspiels: Jedes Wort der komplex-mehrdeutigen Versicherungsbedingungen gilt es für die Kunden individuell zu gewichten in der Hoffnung, dass die eigene Deutung greift. Sollte sich nichts an den unvergleichbaren Leistungsauslösern ändern, kann jeder Makler nur nach eigenem Gefühl bestimmen, welche Grundfähigkeiten für einen Kunden besonders wichtig sind (und zu versichern sind) – und dann anhand der einzelnen Klauseln den Versuch einer Entscheidung wagen, welches Produkt für den Kunden geeignet ist.

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Was in einer solchen Situation natürlich fehlt, ist Sicherheit bei Vermittlung des Produkts. Eine Erkenntnis, die vielleicht mit Blick auf die Branche nicht neu ist – in einer AssCompact-BU-Studie 2018 unter 400 Versicherungsmaklern gaben nur vier von zehn Maklern an, Grundfähigkeitsversicherungen zu vermitteln (Versicherungsbote berichtete). Zwar liegen aktuelle Zahlen nicht vor. Dennoch dürfte es dem Erfolg des Produkts entgegenkommen, wenn die Branche aufgrund solcher Probleme gemeinsam an vergleichbaren Standards arbeitet. Der Beitrag von Assekurata ist auf der Webseite des Unternehmens verfügbar.

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