Versicherungsbote: Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens infolge von Covid-19 haben auch die Universitäten hart getroffen. Wie sind Sie mit Ihrem Institut durch die Krise gekommen? Konnten Sie lehren, forschen?

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Fred Wagner leitet das Institut für Versicherungswissenschaften an der Universität LeipzigWagnerFred Wagner: Ja, wir sind sehr gut durch die Krise gekommen. Wir haben – wie die gesamte Universität Leipzig – im letzten Semester die Lehre komplett auf „remote“ umgestellt. Hierfür bekamen die einzelnen Institute große Organisationsspielräume und Freiheitsgrade. Unser Versicherungsinstitut nutzte für seine Vorlesungen und Seminare Online-Plattformen wie Zoom, um weiterhin interaktive Veranstaltungen durchzuführen, wie auch bereits vor der Krise: Unsere Lehreformate sind keine Frontalveranstaltungen, sondern sollen Austausch ermöglichen. Unsere Studierende konnten per geteiltem Bildschirm Thesen und Folien präsentieren, sich per Mikro und Kamera an den Diskussionen beteiligen. Das hat gut funktioniert.

Ich schwärme jetzt aber nicht von diesen genutzten Möglichkeiten, denn es geht auch viel verloren. Socialising findet nicht statt. Es gibt kaum Kommunikation der Studierenden untereinander, jedenfalls nicht während der Veranstaltung. Die Diskussion kommt kürzer. Deswegen sind wir froh, sobald wir zu Präsenzveranstaltungen zurückkehren können.

Wir haben seit 2018 die Weiterbildungspflicht für Versicherungsvermittler. Ihr Ziel war und ist es, die Qualität der Beratung zu verbessern. Nachgewiesen werden müssen 15 Stunden, was jedoch nicht viel ist. Können Sie bereits ein erstes Fazit ziehen? Hat das gezündet? Die Vermittler haben sich ohnehin schon davor weitergebildet.

Meine Einschätzung ist, dass die IDD-Regelungen zur Weiterbildung keinen Vorteil gegenüber dem gebracht haben, was die Branche bereits vorher umzusetzen begonnen hat. Im Zuge des Projekts „gut beraten“, bei dem im Grunde alle Versicherer mitgemacht haben, galt für die Zertifizierung eine höhere Stundenzahl als jene, die nun von IDD gefordert wird. Folglich sind die neuen Vorgaben ein Rückschritt – auch wenn sie erstmals die Weiterbildung verpflichtend vorschreiben, was zu begrüßen ist.

… Sie beziehen sich auf die Initiative „gut beraten“ der Versicherungswirtschaft, die Vermittler animieren sollte, sich sogar bis zu dreißig Stunden im Jahr weiterzubilden?

Die Brancheninitiative „gut beraten“ sah 30 Stunden als Mindestqualifikationsrahmen pro Jahr und Vermittler vor. Es wundert mich – und das habe ich schon häufiger an verschiedenen Stellen gesagt – dass die Branche ihre freiwillige und umfassendere Lösung nicht konsequent weiterführt, sondern argumentiert: „Es gibt jetzt die IDD, und deren Minimal-Anforderung von 15 Stunden erfüllen wir.“ Damit wird konterkariert, was die Branche selbst für notwendig erachtet hat.

Der Versicherungs- und Finanzanlagenvermittler wird zunehmend zum Expertenberuf. Wir haben eine enorme Vielfalt an Tarifen und Produkten, auch an verschiedene Beratungsbedürfnissen. Ist nicht bereits deshalb die Anforderung vorhanden, sich weiterzubilden? Man könnte auch argumentieren: Im Zweifel regelt das der Markt. Wer sich nicht gut weiterbildet, setzt sich beim Kunden nicht durch…

Das ist selbstverständlich: Wer als Experte bzw. Expertin beraten will, muss die Qualifikation dafür besitzen und aufrechterhalten. Ich vergleiche das gern mit den Beratungskompetenzen in anderen Branchen. Jeder Notar und jeder Rechtsanwalt muss eine hohe Beratungskompetenz besitzen. Jeder Arzt und jeder Architekt! Versicherungsvermittler behandeln Risiken, die teilweise einen vergleichbaren Geldwert haben und existentiell sind. Wenn Sie zum Beispiel einen Haftpflichtschaden ersetzen müssen, sind Beträge denkbar, mit denen Sie ein Haus bauen könnten. Insofern bin ich überzeugt, dass die Wichtigkeit der Qualifikation von Versicherungsvermittlern auf eine Stufe mit anderen wissens- und beratungsintensiven Berufen gestellt werden kann, die mitunter ein höheres Ansehen in der Gesellschaft genießen. Wer sich nicht weiterbildet, wird auch im Vermittlerberuf kaum überlebensfähig sein.

Hinzu kommt, dass Vermittler auf Augenhöhe mit ihren Kunden sprechen sollten. Wenn Sie Kunden aus bestimmten Berufsumfeldern beraten, zum Beispiel Ärzte oder Architekten, ist das erforderliche Niveau entsprechend hoch. Der Versicherungsvermittler als akademischer Beruf – das ist keine Illusion.

Würden Sie folglich Vermittlern empfehlen, zu studieren?

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Soweit würde ich nicht gehen. Es ist – auch faktisch – keine Berufsvoraussetzung für Vermittler, studiert zu haben. Ob ein Studium hilfreich sein kann, richtet sich nach der Zielgruppe, den Risikofeldern und Produkten, auf die sich ein Vermittler spezialisieren will. Es gibt viele Vermittler mit Fachkompetenz, die keinen akademischen Abschluss haben. Sicher werden umfangreiche Kenntnisse gebraucht – neben persönlichen und sozialen Kenntnissen auch Kommunikationsfähigkeiten und digitale Kompetenzen, die im Vertrieb immer wichtiger werden. Dennoch: Ich glaube nicht, dass ein Studium erforderlich ist. Aber es ist allemal nicht schädlich.

...noch immer Branche vieler Quereinsteiger

Sie sprachen bereits die digitalen Fähigkeiten an, die vermehrt gefragt sind. Der Versicherungskaufmann bzw. die -kauffrau wird ab 2022 reformiert. Hier sollen verstärkt auch IT und digitales Know-how vermittelt werden. Kann man zugespitzt sagen: Vermittler werden zukünftig auch zu IT-Experten?

Ist man ein Motorexperte, wenn man ein Auto ordentlich fahren kann? Ich bin zwar davon überzeugt, dass die digitalen Anwendungen, die heute möglich sind und die zunehmend auch Usus werden, von den Vermittlern beherrscht werden müssen. Aber dafür braucht man kein IT-Experte zu sein. Wichtiger ist es – und darauf zielt meines Wissens auch die Reform des Ausbildungsberufes –, dass bei Vermittlern die Berührungsängste abnehmen. Es müssen die Bereitschaft und Fähigkeit vorhanden sein, die digitalen Anwendungen zu nutzen. Welche Möglichkeiten bieten die digitalen Tools und wie werden sie bedient? Wie können sie so in den Beratungsprozess eingebunden werden, dass sie diesen unterstützen? Wie können sie organisatorisch und strukturell in den laufenden Vermittlerbetrieb integriert werden? Diese Kompetenzen in die Ausbildungsgänge mit hineinzunehmen, halte ich nicht nur für richtig, sondern für notwendig. Denn die Versicherer, aber auch die Kundinnen und Kunden nutzen digitale Tools – folglich ist die Anwendung dieser Techniken auch essentiell für den Vermittlerberuf.

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Ein anderer Aspekt: Die Branche muss vermehrt IT-Experten ausbilden oder zumindest beschäftigen, um Tools für den Versicherungsvertrieb zu programmieren. Sie müssen Anwendungen auch für Menschen entwickeln, die nicht IT studiert haben und trotzdem mit den Anwendungen umgehen können. Genauso, wie Autos derart entwickelt werden, dass auch Sie und ich sie fahren können. Hier kommen viele Impulse durch Start-ups und Insurtech, die neue Anwendungsmöglichkeiten sehen und entwickeln. Auch sie müssen unter Umständen branchenspezifisch weitergebildet werden und Versicherungswissen erwerben, um Einblicke zu gewinnen, wie die Technik im Vermittlungsgespräch sinnvoll zum Einsatz kommen kann und was Vermittler hierbei beachten müssen.

Es galt lange als ein Klischee im Vermittlerberuf, von vielen Quereinsteigern durchsetzt zu sein – ich kann mich noch an die Nachwendezeit in Ostdeutschland erinnern, als frühere Lehrer oder Polizisten plötzlich „in Versicherungen gemacht“ haben. Bricht dieses Phänomen aufgrund der steigenden Qualifikations-Anforderungen zunehmend weg?

Meine Wahrnehmung ist, dass wir aus diesem Klischee gar nicht heraus sind. Nach wie vor kommen viele neue Vertriebskolleginnen und -kollegen aus anderen Branchen. Das ist per se ja auch nichts Schlimmes. Aber es muss dafür gesorgt werden, dass sie schnell und ausreichend qualifiziert werden.

Eine größere Sorgfalt in der Branche wäre bei der Auswahl neuer Vermittler hilfreich – wenngleich es immer etwas pauschal klingt, von „der“ Branche zu sprechen. Aber wenn man beobachtet, wie viele oben in den Trichter herein geschmissen werden und wie viele nach zwei Jahren noch im Vermittlerberuf aktiv und erfolgreich sind, machen die Zahlen keine Freude. Hier gilt es auch zu berücksichtigen, was die Beschäftigung in den ersten zwei Jahren kostet – mit Provisionsgarantien, Bürokostenzuschüssen, der Ausbildung als solcher und der Büroausstattung. Das ist immer noch ein Groschengrab für die Versicherungswirtschaft.

Das alles heißt aber nicht, Quereinsteiger ausschließen zu sollen. Jeder fängt mal an. Und dann zählt auch die Frage, welche Qualifikationen die Einsteiger bereits mitbringen. Waren die Vermittler vorher bereits in menschen- und beratungsnahen Berufen aktiv? Das hilft sicher für den Einstieg. Auch die persönlichen und finanziellen Verhältnisse spielen für die Eignung eine Rolle. Empfehlungen älterer Kollegen sind hilfreich für die Rekrutierung und Auswahl – sie haben meist ein gutes Gefühl dafür, ob jemand geeignet sein könnte oder nicht. Man muss nichts gegen Quereinsteiger haben. Aber eben nicht alle und jeder!

Mehr Nachwuchs mit digitalen Kompetenzen

Welche Mindest-Qualifikationen halten Sie denn für Vermittler für ausschlaggebend? Reicht es, Versicherungsfachmann oder -fachfrau zu werden? Welche Qualifikationen würden Sie zusätzlich empfehlen?

Ich bin da kein Dogmatiker. Es gibt sicher in Zukunft weiter die Möglichkeit, sich über die formellen Mindestqualifikationen hinaus theoretisch und praktisch weiterzuqualifizieren. Aber dass man jetzt sagt: Es muss noch ein Bachelor sein oder ein Master – das würde ich nicht pauschal vorgeben. Jede Qualifikation hilft. Ich kann mir keine einschlägige Qualifikation vorstellen, die die Berufsausübung behindert. Es kommt am Ende darauf an, welche Kunden bedient, welche Risikofelder beraten, welche Versicherungsprodukte eingesetzt werden und welche Erfahrungen schon vorliegen.

Wir sehen uns in der Vermittlerbranche mit einem enormen Nachwuchsmangel konfrontiert, das Durchschnittsalter nähert sich den 50 Jahren. Kümmert sich die Versicherungswirtschaft zu wenig darum, neue Nachwuchskräfte zu gewinnen? Ist sogar ein Vermittlersterben mit Beratungsengpässen zu erwarten, wie mancher Branchenbeobachter warnt?

Ich versuche, bei Fakten zu bleiben. Wir haben tatsächlich ein recht hohes Durchschnittsalter im Vertrieb. Das sind die Kolleginnen und Kollegen, die schon lange im Beruf tätig sind und ihn beherrschen. Ich gehöre ganz und gar nicht nicht zu jenen, die sagen: Das breite Feld ist unterqualifiziert. Im Großen und Ganzen gilt stattdessen: Wir haben knapp 200.000 Vermittler in Deutschland. Die meisten sind gut qualifiziert und lange und erfolgreich im Beruf. Sie betreiben nachhaltiges Geschäft und bedienen ihre Kunden nach gutem Wissen und Gewissen.

Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch andere gibt – wenig Qualifizierte und Vermittler, die „schnelles Geschäft“ betreiben. Dadurch wird aber leider auch das Branchenimage negativ geprägt. Nicht umsonst ist das Fernbild der Vermittler, also die Sicht der allgemeinen Kundschaft auf den Vermittlerberuf, teils miserabel. Der Vertreter oder der Makler als solcher hat leider ein schlechtes Image in der breiten Öffentlichkeit. Der „Jupp“ um die Ecke aber, mein Vertreter – der hilft mir. Das Nahbild ist gut. Und die Summe der Nahbilder wäre vermutlich sehr viel besser als das Fernbild der Vermittler.

Die Mehrheit der Vermittler ist also gut qualifiziert, aber schon im fortgeschrittenen Alter. Und die Welt ändert sich. Damit muss sich auch das Setting der Vermittler verändern. Gehen wir zurück zum Thema Digitalisierung. Da haben es etablierte Vermittler im fortgeschrittenen Alter oft schwerer als junge Leute. Das merke ich am eigenen Beispiel. Sicher bin ich sehr aufgeschlossen für neue Technologien und die digitale Welt. Aber wenn ich mir mein eigenes Informationsverhalten ansehe, etwa wenn ich eine Frage beantworten will – da liegen Welten zwischen meiner Herangehensweise und jener meines 14jährigen Sohnes. Ich bin immer wieder überrascht, wie schnell er die Antwort hat und auf welchem – immer digitalen – Weg er sie findet, da komme ich nicht mit.

Es wäre für die Branche schädlich, wenn nicht mehr junge Menschen mit digitalen Kompetenzen nachkommen würden, die sich selbstverständlich in den neuen Welten bewegen. Hier tut sich die Versicherungsbranche tatsächlich schwer, das Berufsfeld für Menschen mit digitalen Kompetenzen attraktiver zu machen. Der Ansatz der Ausbildungsrenovierung kann ein wichtiger Schritt dahin sein: digitales Wissen mehr zu gewichten.

Warnungen vor einem Vermittlersterben halte ich jedoch für übertrieben, weil wir mit 200.000 Vermittlern immer noch zu viele haben: Ich würde schätzen, etwa ein Drittel davon ist entbehrlich. Wenn jene aussteigen würden, die wenig Geschäft produzieren, wenig erfolgreich sind und eigentlich davon gar nicht leben können, wäre das für die Branche nicht nur verkraftbar, sondern vermutlich sogar vorteilhaft … und für die Kunden auch.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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