Das zugrundeliegende Problem – seit Jahren bekannt – veranschaulicht mit aktuellstem Stand die jüngste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts (Destatis): Die Alterung der Gesellschaft lässt sich nicht aufhalten. Die Zahl der Menschen im Alter ab 67 Jahren stieg bereits zwischen 1990 und 2018 um 54 Prozent von 10,4 Millionen auf 15,9 Millionen und wird bis 2039 um weitere fünf bis sechs Millionen auf mindestens 21 Millionen anwachsen.

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Anders hingegen der Trend bei den Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren: Deren Zahl wird voraussichtlich bis 2035 um vier bis sechs Millionen abnehmen. Für die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung (GRV) bedeuten solche Zahlen: Immer weniger Beitragszahler müssen für immer mehr Rentner aufkommen.

Da verwundert es kaum, wenn einige Maßnahmen des umfangreichen Reformpakets, das im November 2018 als RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz erst den Bundestag und dann den Bundesrat passierte, sich eher wie Strategien für ein Rückzugsgefecht ausnehmen. Das trifft auch für jene „doppelte Haltelinie“ für das Rentenniveau und den Beitragssatz zu.

Denn beschlossen wurde über das Gesetz:

  • Das Rentenniveau als Verhältnis zwischen a) einer Rente nach 45 Jahren Berufstätigkeit bei Durchschnittsverdienst sowie b) einem aktuellen Durchschnittsverdienst. Das Verhältnis darf bis 2025 nicht auf einen Prozentsatz unter 48 Prozent sinken.
  • Auch darf der Brutto-Beitrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zur Rentenversicherung zahlen müssen, bis 2025 einen Satz von 20 Prozent nicht übersteigen.

Ausgleichender Nachholfaktor fiel doppelter Haltelinie zum Opfer: Paragraph 255g SGB VI

Mit Mühe also wird nun zumindest für eine bestimmte Zeit eine Garantie für Rentenniveau und Brutto-Beitrag gegeben bis ins Jahr 2025. Damit aber die Garantie greifen kann, wurde ausgerechnet im Nachholfaktor ein Problem gesehen. Und das, obwohl der Nachholfaktor zum Schutz vor wirtschaftlichen Krisen mit starkem Lohnrückgang in der Gesamtbevölkerung dient – wie aktuell geschehen durch die Corona-Pandemie.

Denn der Nachholfaktor hätte die Garantie für das Rentenniveau aushebeln können: Das garantierte Sicherungsniveau von 48 Prozent als Verhältnis einer Durchschnittsrente zum Durchschnittsverdienst hätte nachträglich durch eine Verrechnung in Frage gestellt werden können. Dies führt die Begründung zum Gesetzentwurf in 2018 aus. Dass eine Situation wie derzeit durch Corona wirklich eintritt, hielt man damals wohl für unwahrscheinlich.

Also schrieb man sich über das RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz eine Übergangslösung ins Sechste Sozialgesetzbuch, die bestimmt, dass eine Berechnung des Ausgleichsbedarfs nach Paragraph 68a bis zum 30. Juni 2026 nicht erfolgt – Grundlage hierfür ist Paragraph 255g SGB VI. Damit hatte man aber just einen Schutzmechanismus ausgehebelt, der gerade während der Corona-Pandemie notwendig wäre.

Denn wenn nun im nächsten Jahr tatsächlich durch Einbruch der Löhne eine Rentenanpassung nach unten geboten wäre, wird im ersten Schritt eine Rentenanpassung im Sinne der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nicht stattfinden: Die Schutzklausel greift und sichert, dass es nicht zum Sinken der Renten kommt. Der zweite, ausgleichende Schritt aber fehlt: Der Mechanismus, der diese fehlende Anpassung in den Folgejahren wieder ausgeglichen hätte, ist nun bis 2026 außer Kraft gesetzt. Die Rechnung geht letztendlich zulasten der Beitragszahler.

Aussetzen des Nachholfaktors: Gefahr auch für Steuerzahler

Nun könnte man natürlich argumentieren: Es gäbe ja durch die „doppelte Haltelinie“ auch eine Garantie für den Brutto-Beitrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zur Rentenversicherung zahlen müssen (bei einer Obergrenze von 20 Prozent). Dennoch aber könnte sich für Beitragszahler – auch indirekt – das Aushebeln des Schutzmechanismus als Bumerang erweisen. Denn wenngleich die Garantie für die Beiträge zumindest bis 2025 gegeben ist, muss schon ohne Corona der Staat zwischen 2022 und 2025 – gemäß Gesetzentwurf – je 500 Millionen Euro jährlich zuschießen aus Steuergeldern, um die doppelte Haltelinie zu sichern.

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Reißt die Pandemie nun noch größere Löcher in die Rentenkasse, werden noch mehr Steuergelder gebraucht. Fehlender Ausgleich durch Aussetzen des Nachholfaktors geht also mit großer Wahrscheinlichkeit zulasten der Beschäftigten – durch Steuern oder durch ein späteres und größeres Ansteigen der Beiträge.

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