Deutschlands zweitgrößte Krankenkasse mit 9,1 Millionen Versicherten sieht sich aktuell mit schweren Betrugsvorwürfen konfrontiert. Über Jahre hinweg seien Arztdiagnosen nachträglich gefälscht worden, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Das werfe der Krankenkasse die Staatsanwaltschaft Berlin vor, die aktuell gegen mehrere Verantwortliche ermittle, so berichtet am Dienstag die Webseite businessinsider.de.

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Aufsichtsbehörde soll bereits Geld zurückgefordert haben

Wie das Webportal weiter schreibt, weise die Barmer bisher alle Vorwürfe zurück. Doch nicht nur die Staatsanwaltschaft die Staatsanwaltschaft ermittle seit Monaten gegen die Krankenkasse wegen Abrechnungsbetrugs. Auch die Aufsichtsbehörde sei aktiv geworden: das Bundesamt für Soziale Sicherung. Sie fordere allein für das Jahr 2013 mehr als 30 Millionen Euro von der Kasse zurück. Ein entsprechender Bescheid sei der Kasse bereits zugestellt worden.

Nach Informationen von Business Insider wird es dabei nicht bleiben. Ein weiterer Rückforderungsbescheid für das Jahr 2014 werde der Barmer bereits zugestellt, so will das Portal aus Kreisen der Aufsichtsbehörde erfahren haben: über die stolze Summe von 80 Millionen Euro. Die Barmer soll demnach Krankheitsbefunde nachträglich derart klassifiziert haben, dass sie als chronische Krankheiten abgerechnet werden können. Hierfür gibt es Extrageld aus dem Gesundheitsfonds.

TK-Studie: Viele Ärzte manipulieren

Neu sind derartige Vorwürfe im System der Krankenkassen nicht. Die 105 Anbieter sehen sich einem harten Wettbewerb ausgesetzt — und sollen mit niedrigen Zusatzbeiträgen um Kundinnen und Kunden werben. Umso verlockender ist es, mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Dass dabei auch mit schmutzigen Tricks gearbeitet wird, haben bereits Studien belegen können. Oft arbeiten Kassen und Ärzte dabei Hand in Hand:

Laut einer Hochrechnung, die das Wissenschaftliche Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung Leipzig (WIG2) 2019 im Auftrag der TK erstellt hat, können bei bundesweit bei 25.000 Ärzten Manipulationen zulasten des Gesundheitssystems angenommen werden. Das liegt auch an Fehlanreizen durch den Gesetzgeber, die durch den sogenannten Morbi-RSA geschaffen wurden (der Versicherungsbote berichtete).

Morbi-RSA "belohnt" Falschdiagnosen

Der Grundgedanke des Morbi-RSA ist einfach. Hat eine Krankenkasse viele alte und kranke Patientinnen und Patienten versichert, die statistisch mehr Geld kosten, soll ihr das im Wettbewerb keinen Nachteil bedeuten. Also schafft man einen Ausgleich. Seit 2009 werden 80 Krankheiten der Kassen mit pauschalen Zahlungen vergütet. Ein Krankheiten-Katalog führt weitere 192 hierarchisierte Morbiditätsgruppen (HMG) als Grundlage für Zuweisungen auf.

Dieses System schafft Anreize für Manipulationen. Leiden Patienten nämlich unter einer Krankheit, die nicht für den Morbi-RSA relevant ist, aber dennoch hohe Kosten erzeugt, droht eine finanzielle Unterdeckung der betroffenen Krankenkassen. Sie erhalten für diese Patienten weniger oder kein Geld aus dem Ausgleichstopf.

Die unterschiedliche Vergütung von Krankheiten könne zu einem regelrechten „Kodierwettbewerb“ führen, wie auch ein Sondergutachten des Bundesgesundheitsministeriums zu bedenken gibt. Die Krankenkassen belohnen Ärzte dafür, wenn diese eine Krankheit diagnostizieren, für die es höhere Zuschüsse gibt. Auch wenn der Patient an etwas ganz anderem leidet.

Weckruf 2016 durch TK-Chef Jens Baas

Erstmals breit debattiert wurde über die Manipulationen, nachdem TK-Chef Jens Baas im Herbst 2016 diese Praxis in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ansprach. "Die Kassen bezahlen zum Beispiel Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen", sagte Baas damals dem Blatt. "Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1.000 Euro mehr im Jahr pro Fall".

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Allein im Jahr des Interviews sei den Versicherten so ein Schaden von einer Milliarde Euro entstanden, schätzte der TK-Vorstand in dem Gespräch. Ein lohnendes Geschäft für die Beteiligten: Die Kassen würden Ärzte bewusst beraten, um mit getürkten Diagnosen mehr Geld zu erhalten. Auf die Frage: "Welche Kassen machen das?" antwortete Baas: "Alle, auch wir können uns dem nicht völlig entziehen."

Reform des Morbi-RSA geplant

Wie weit die Verstrickung von Kassen und Ärzten bei den bewussten Falschdiagnosen geht, ist beachtlich. Kassen sollen zum Beispiel Software-Hersteller dafür bezahlt haben, durch Programme auf die Diagnosen der Ärzte Einfluss zu nehmen. Die Software sollte den Medizinern für das diagnostizierte Leiden Änderungsvorschläge mit einer jener 80 Krankheiten anbieten, für die deutlich mehr Gelder fließen. Aufgrund dieses Vorgehens hat das Bundesversicherungsamt (BVA) in den Jahren 2017 und 2018 mehrere Krankenkassen abgemahnt (der Versicherungsbote berichtete).

Diese Fehldiagnosen belasten nicht nur das Versicherungskollektiv. Die betroffenen Patienten können dadurch auch massive Nachteile erleiden, wenn sie eine private Versicherung mit Gesundheitsfragen abschließen wollen: etwa eine Berufs- oder Risikolebensversicherung. Im Antrag müssen alle Arztdiagnosen der letzten Jahre korrekt eingetragen werden. Sonst kann der Versicherer im Leistungsfall vom Vertrag zurücktreten und geltend machen, dass der Antragsteller die vorvertragliche Anzeigepflicht bewusst verletzt hat. Das kann den Versicherungsschutz kosten. Oft ist es nur schwer möglich, dem behandelnden Arzt rückwirkend eine Falschdiagnose nachzuweisen (der Versicherungsbote berichtete).

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Reform des Morbi-RSA

Die Politik ist für das Thema sensibilisiert. Erste Erfolge brachte bereits eine Reform des Heil- und Hilfsverordnungsgesetzes (HHVG) ab 2017, indem zusätzliche Vergütungen für Diagnosen in Gesamt- und Selektivverträgen verboten wurden. Tatsächlich lässt sich laut WIG-Studie danach ein Rückgang manipulativer Eingriffe beobachten.

Das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz soll nun weitere Verbesserungen bringen und das System weniger manipulationsanfällig machen. Im Dezember wurde es erstmals im Bundestag beraten: Und sieht unter anderem vor, den Risikostrukturausgleich auf alle Krankheiten auszuweiten. So soll der Fehlanreiz für falsche Diagnosen deutlich gemindert werden. Darüber hinaus ist ein Verbot jedweder Verknüpfung von Diagnose und Vergütung in Versorgungsverträgen vorgesehen.

Widerstand durch Ärzte und Ortskrankenkassen

In Sack und Tüten ist das Gesetz aber noch nicht. Widerstand kommt unter anderem von den mächtigen Ortskrankenkassen (AOKen), die bisher am meisten finanziell vom RSA-Modell profitieren. Und auch die Ärzteverbände leisten erbitterten Widerstand, wie die Ärztezeitung berichtet. Sie fürchten, ähnlich wie die AOK, dass Haus- und Facharztverträge durch die neuen Regeln massiv ausgehöhlt werden.

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Ob ein Vollmodell aller Krankheiten wirklich zu weniger Manipulationen führt, ist ebenfalls umstritten. Die TK gibt zu bedenken, dass dennoch Fehlcodierungen stattfinden werden, wenn dies einen finanziellen Vorteil verspricht: etwa, wenn der Patient in der Gesundheitsakte kranker gemacht wird, als er eigentlich ist. Diskutiert wird nun über eine sogenannte Manipulationsgrenze. Sie soll bewirken, dass bei bestimmten Auffälligkeiten gar kein Geld mehr fließt: zum Beispiel bei Krankheiten, deren Fallzahlen auffällig ansteigen.

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