Ungewöhnlich: TK-Chef Baas voller Lob für Spahn

Ein Widerspruch, der erstaunen könnte: Zuletzt hatte Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse (TK), die Pläne zur Reform des Risikostrukturausgleichs aus dem Hause des Bundesgesundheitsministeriums noch kritisiert: Sie würden den Diagnose-Wettlauf um Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds verstärken. Nun aber, in einer aktuellen Pressemitteilung von Deutschlands größtem Krankenversicherer, lobt Baas die Pläne Spahns: Sie seien „eine klare Ansage in Sachen Manipulationssicherheit“ und zeugten „von tiefer Kenntnis der Problematik“.

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Woher der Sinneswandel? Wichtig ist dem Vorstandsvorsitzenden der TK hierbei ein wesentlicher Punkt der Pläne: Eine einheitliche Aufsicht für alle Kassen in der Hand des Bundes soll umgesetzt werden. Würden doch „Parallelstrukturen“, wie sie derzeit vorherrschen, unterschiedliche Bedingungen für die Krankenkassen schaffen. Der Hintergrund: Momentan unterliegt die Aufsicht für regionale Kassen den Bundesländern, die Aufsicht bundesweit tätiger Anbieter wie der TK hingegen unterliegt dem Bund. Und Baas impliziert mit seinen Forderungen einen Verdacht: Prüfbehörden der Länder gehen nicht ausreichend gegen die Einflussnahme von Krankenkassen auf Ärzte vor und tolerieren dadurch Abrechnungsmanipulationen.

Morbi-RSA: Auf zum „Kodierwettbewerb“

Fest steht: der Morbi-RSA in seiner jetzigen Form schafft Fehlanreize, die in Betrug münden können. Eingeführt Anfang 2009 – parallel zum Gesundheitsfonds – sollte das Umverteilungssystem eigentlich ausgleichend für den Wettbewerb der Kassen wirken. Eine Kasse mit vielen älteren und kranken Versicherten sollte demnach mehr Geld durch Zuteilung aus dem Gesundheitsfonds erhalten als ein Anbieter, der mehr junge und gesunde Menschen versichert.

Insbesondere für schwerwiegende oder chronische Erkrankungen mit hohen Folgekosten sollten mehr Gelder fließen, so der Grundgedanke des Morbi-RSA. Hierfür legte das Bundesversicherungsamt (BVA) die zu berücksichtigenden Krankheiten fest: Seit 2009 wird ein Katalog von 80 Krankheiten mit pauschalen Zahlungen an die Krankenkassen vergütet. Der Krankheiten-Katalog führt zu 192 hierarchisierten Morbiditätsgruppen (HMG) als Grundlage für Zuweisungen an die Kassen. Von Anfang an aber war der Wurm drin in diesem Umverteilungssystem.

Der Grund: Manipulationsanreize. Führt doch das jetzige Modell zu einer Unterdeckung der Kranken, sobald diese ohne RSA-Relevanz bleiben, wie ein Sondergutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit mit Datum vom 27. November 2017 darlegt. Mit anderen Worten: Sind Patienten an einer teuren Krankheit erkrankt, die nicht zu den im Katalog definierten Krankheitsbildern gehört, bekommt der Versicherer keinen Cent mehr.

Zugleich, so ein weiteres Ergebnis der Studie, führt das jetzige Modell zu einer Überdeckung bestimmter Krankheiten durch Zuwendungen aufgrund des Risikoausgleichs. Hier erhalten die Krankenkassen auch dann deutlich mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds, wenn die Behandlung gar nicht entsprechend teuer ist. Bei bis zu 20 gesicherten Diagnosen kann ein Zugewinn durch Überdeckung ausgemacht werden, wie das Papier ausführt: Werden diese Krankheiten entsprechend oft diagnostiziert, bekommt die Kasse höhere Zuschüsse.

So schafft das System Fehlanreize: Zum einen lohnt es sich für die Kassen, wenn Ärzte Diagnosen mit RSA-Relevanz stellen. Zum anderen spielt auch die Zahl der Diagnosen eine Rolle. Was läge da näher, als durch Beeinflussung der Diagnosen im Sinne des eigenen Geschäftserfolgs zu wirken? Die Auswirkungen eines solchen Umverteilungssystems wären demnach fatal: Statt zu einem fairen Wettbewerb könnte das jetzige System zu einem so genannten „Kodierwettbewerb“ führen. Zugespitzt formuliert: Der Morbi-RSA verschafft jenen Kassen einen Wettbewerbsvorteil, die es besonders geschickt verstehen, die Kodierung der Ärzte in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Der Verdacht: Systematische Diagnose-Manipulation

Aber schummeln Kassen wirklich systematisch bei der Abrechnung und beeinflussen dadurch die Diagnosen der Ärzte? Verdachtsfälle gab es mehr als genug in den zurückliegenden Jahren. Eine Schlüsselrolle hierbei spielt die Diagnosekodierung, wie spektakuläre Fälle der Vergangenheit zeigten – Kassen sollen zum Beispiel Software-Hersteller dafür bezahlt haben, durch Programme auf die Diagnosen der Ärzte Einfluss zu nehmen. Die Software sollte Ärzten Änderungsvorschläge mit einer jener 80 Krankheiten anbieten, für die viele Gelder fließen (der Versicherungsbote berichtete). Besonders regionale Strukturen wirken sich hierbei fatal aus: Je einflussreicher eine bestimmte Kasse auf ein Wettbewerbsgeschehen Einfluss nehmen kann durch Selektivverträge mit Vertragsärzten, desto größer die Gefahr für derartige Schummeleien zulasten des Versichertenkollektivs und zulasten des Staates.

Hochrechnung der Tk-Studie legt nahe: 25.000 Ärztinnen und Ärzte betroffen

Die aktuelle Studie, durchgeführt durch das Wissenschaftliche Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung Leipzig (WIG2) im Auftrag der TK, verhärtet nun den Befund systematischen Abrechnungsbetrugs. So wurden, vom 28.03.2019 bis zum 18.04.2019, niedergelassene Allgemeinmediziner und Internisten ohne fachlichen Schwerpunkt befragt. Für die Stichprobe nutzte man das Ärztepanel des Dienstleistungsunternehmens DocCheck Medical Services GmbH.

Freilich: Die Zahl („25.000 Betroffene"), die nun durch die Techniker Krankenkasse lanciert wird, ist eine Hochrechnung der Ergebnisse auf alle in Deutschland niedergelassenen Mediziner – denn teilgenommen hatten an der Umfrage „nur“ 618 Mediziner. Die Antworten dieser Ärztinnen und Ärzte wurden, nach Auswertung der Ergebnisse, in einem zweiten Schritt auf alle in Deutschland niedergelassenen Ärzte hochgerechnet.

Hierfür gewichtete die Studie auch die regionale Verteilung der Teilnehmenden nach Bundesland. Für Fragen gab die Studie zudem eine Zäsur vor für das Jahr 2018. Demnach wurde getrennt erfragt, ob Ärzte vor 2018 Vorschläge zur Diagnosekodierung in ihrer Praxis erhielten und ob sie nach 2018 weiterhin derartige unerlaubte Vorschläge erhielten. Hintergrund dieses Vorgehens: Der Gesetzgeber wollte mit dem 2017 verabschiedeten Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) auch erstmals gegen die Gefahr der Abrechnungsmanipulation vorgehen. So verbot der Gesetzgeber zum Beispiel jede zusätzliche Vergütung für Diagnosen in Gesamt- und Selektivverträgen. Die Befragung sollte in diesem Kontext auch ergründen: Hat der erste Versuch eines gesetzlichen Gegensteuerns gegen Fehlentwicklungen etwas genutzt?

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Illegale Kodierberatung ist wie eh und je seit 2009 ein Problem

Das Ergebnis der Umfrage zeigt, dass die bisherigen Gesetzeskorrekturen nicht ausreichen. Zwar blieb das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) nicht wirkungslos, aber illegale Kodierberatung ist wie eh und je seit Einführung des Morbi-RSA ein Problem. Denn mit 64,9 Prozent der Befragten waren zwar vor 2018 noch mehr als 400 der befragten Mediziner von dieser Abrechnungsmanipulation betroffen, hingegen reduziert sich der Wert für die Zeit nach 2018 auf 120 Betroffene (= 19,4 Prozent). Bedacht werden für diese Ergebnisse muss aber auch: Die Frage für die Zeit vor 2018 zielt auf einen längeren Zeitraum. Zumal das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) auch erweiterte Strafbestände einführte – und dennoch lassen Kassen nicht vom Versuch ab, die Diagnosen der Ärzte zu manipulieren.

Methoden der illegalen Kodierberatung

Die Studie wollte auch erfragen, welcher Art die illegale Kodierberatung war. Demnach wurden verschiedene Methoden für die Manipulationsversuche vorgegeben. Bezogen auf die 120 Mediziner, die von den illegalen Praktiken betroffen waren, zeigt sich (bei möglicher Mehrfachnennung) Folgendes:

  • 40 Prozent der Betroffenen gaben an, in ihrer Praxis eine persönliche Kodierberatung erhalten zu haben.
  • Auch wurden 31,7 Prozent telefonisch zur Kodierung beraten und
  • 36,7 Prozent erhielten Vorschläge durch informationstechnische Systeme oder Praxissoftware.
  • Bei 19,2 Prozent wurden nachträgliche Diagnoseübermittlungen nach erfolgten Wirtschaftlichkeitsprüfung angefragt.

Die Werte der Stichprobe werden in einem zweiten Schritt von den Studienautoren auf ganz Deutschland hochgerechnet. Will man einem solchen Errechnen gerundeter Werte Glauben schenken und überträgt man die Studienwerte auf alle niedergelassenen Ärzte in Deutschland, zeigt sich folgendes Bild: Nach 2018 sind 3.838 Ärztinnen und Ärzte von illegaler Kodierberatung über Praxissoftware betroffen, 3.316 von illegaler telefonischer Kodierberatung, 2.008 im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Zudem sind 4.184 Ärztinnen und Ärzte von persönlicher Kodierberatung betroffen, 1.307 von sonstigen Maßnahmen (etwa schriftlichen Patientenlisten mit Diagnosevorschlägen).

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Spahns Reformentwurf: Die "Manipulationsbremse"

Was aber soll sich durch den aktuellen Gesetzentwurf "für eine faire Kassenwahl in der GKV“als „Manipulationsbremse“ ändern? Am weitesten geht sicher die geplante Einführung eines Vollmodells auf Basis aller Krankheiten: Statt dass wie bisher nur 80 Krankheiten für den Risikostrukturausgleich berücksichtigt werden, fließen laut Plan zukünftig alle Krankheiten in die Berechnung ein.

Konkrete Zahlen zu den Unterschieden des jetzigen und des geplanten Modells liefert das Sondergutachten zu den Wirkungen des RSA: Im jetzigen Modell führen 192 hierarchisierten Morbiditätsgruppen auf Grundlage von 80 Krankheiten zur Berechnung der Zuschläge. Ein Vollmodell hingegen würde nach jetzigem Stand 362 Krankheiten und 474 Morbiditätsgruppen berücksichtigen, um Zuschläge an die Kassen zu errechnen. Deutlich erweitert wäre bei einem derartigen Modell die Zahl der berücksichtigten Risikofaktoren für den Ausgleich.

Ob ein Vollmodell jedoch tatsächlich geeignet ist, den „Kodierwettbewerb“ zu beenden, wurde von keinem geringeren als von TK-Chef Jens Baas bestritten, der gegenüber der Öffentlichkeit erklärte: Die „Ausweitung auf ein Vollmodell“ verstärke sogar „den Diagnose-Wettlauf um Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds“. Das sei „kein produktiver, sondern ein kranker Wettbewerb".

Steigerungsraten bei RSA-Diagnosen sollen sich laut Plan zukünftig negativ auswirken

Ein weiteres Instrument der „Manipulationsbremse“ hingegen könnte schon effektiver sein: So sollen sich zukünftig hohe Steigerungsraten bei Diagnosen zum Nachteil der Kassen auswirken, falls sie Indiz sind für Manipulationen. Überschreiten Steigerungsraten ein bestimmtes statistisches Maß, erhalten Kassen laut Plan in Zukunft keine Risikozuschläge für die entsprechenden Morbiditätsgruppen mehr.

Am wirkungsvollsten gegen Manipulationen ist aus Sicht des TK-Chefs eine einheitliche Aufsicht der Krankenkassen in der Hand des Bundes. Freilich: Dieser Idee liegt eine Unterstellung zugrunde: Behörden der Bundesländer lassen Manipulationen regionaler Kassen eher zu. „Wettbewerbsverzerrungen durch Unterschiede im Aufsichtshandeln“ nennt sich dieses Problem in der Verlautbarung des Gesundheitsministeriums. Das Risiko ist zumindest gegeben, wie auch das Sondergutachten zu den Auswirkungen des Morbi-RSA nahelegt.

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Kassen sollen zukünftig selbst bei Verdachtsfällen aktiv werden dürfen

Aber noch etwas anderes an den Plänen dürfte dem Chef von Deutschlands größter Krankenkasse gefallen: Neue Wettbewerbsregeln sollen Mindeststandards gegen unlauteren Wettbewerb schaffen. Und: Die Kassen dürfen zukünftig in größerem Maße selbst die Einhaltung der Regeln überwachen. Besondere Möglichkeiten wie Unterlassungsansprüche oder auch zusätzliche Möglichkeiten zur Klage will der Gesetzgeber dabei den Kassen eröffnen, sobald wettbewerbsverzerrende Rechtsverstöße durch Konkurrenten (wie zum Beispiel RSA-Manipulationen) vermutet werden. Das Besondere hieran: Diese Möglichkeiten sollen explizit auch für Situationen geschaffen werden, in denen Aufsichtsbehörden trotz Rechtsverstoß nicht aktiv werden.

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