Versicherungsbote: Sie haben gemeinsam mit der Technischen Universität Braunschweig eine Studie zur Verständlichkeit von Berufsunfähigkeits-Bedingungswerken vorgelegt. Welche Kriterien haben Sie für die Studie zugrunde gelegt, um Verständlichkeit zu messen? (zum konkreten Studiendesign siehe Interview Teil 1)

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Günther Zimmermann: Wir haben uns aus der Vielzahl der möglichen Kriterien auf Wortschatz, Satzbau (Länge und Komplexität) und Semantik (Bedeutungen) beschränkt. Prof. Dr. Günther Zimmermann, Sprachwissenschaftler von der Technischen Universität BraunschweigGünther Zimmermann

Claus-Dieter Gorr: In dieser Studie wurde nicht untersucht, inwieweit die eigentlichen Vertragsgrundlagen, also beispielsweise die eigentliche Leistungsbeschreibung, die Obliegenheiten des Versicherungsnehmers im Leistungsfall oder der eigentliche Leistungsprozess transparent, schlüssig und nachvollziehbar sind. Das sind Themen für eine Folgestudie.

…und wo lauern die größten Fallstricke für Verbraucher? Vielleicht können Sie Beispiele nennen.

Zimmermann: Die Verbraucher verstehen neben zahlreichen Fremdwörtern viele Fachausdrücke der Versicherungsbranche nicht. Fachwörter der Rechtssprache werden ggf. als Alltagswörter verstanden, z. B. das Wort „unverzüglich“ im Sinne von „sofort“, „auf der Stelle“ „ohne Verzug“. Sätze von zum Beispiel 66 Wörtern sind so lang und häufig komplex, dass Versicherungsnehmer solche „Informationsmonster“ kaum nach einmaliger Lektüre angemessen zu rezipieren in der Lage sind. Wie wir feststellen konnten, gilt das auch für Juristen und Versicherungsexperten.

Gab es auch Bedingungswerke, die besser verständlich waren? Bei denen Sie sagen: Hier ist ein Bemühen erkennbar, sich positiv vom Markt abzuheben — vielleicht sogar mit Vorbildfunktion für andere?

Gorr: Nach unseren Analysen mit unserer Software gibt es in der Tat kaum Unterschiede. Die Gesamtanzahl unverbindlicher Formulierungen und unbestimmter Begriffe liegt bei 61 untersuchten Tarifwerken bei 130. Der Versicherer mit der geringsten Anzahl hat 43, der mit der höchsten 72. So oder so nicht akzeptabel.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat Musterbedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung vorgelegt, an denen sich die Versicherer orientieren können und sollen. Wie schätzen Sie diese ein? Sind sie verständlich und kundenfreundlich?

Claus-Dieter Gorr, Geschäftsführender Gesellschafter von Premium CirclePremium CircleZimmermann: Ich habe mit meiner Firma lingua@MEDIA an vielen überarbeiteten Bedingungen des GDV mitgewirkt und die Texte bei zahlreichen potenziellen Versicherungsnehmern überprüft. Daher dürfen die heute vorliegenden schon als deutlich besser verständlich bezeichnet werden. Das Gleiche gilt für eine Reihe von Produktinformationsblättern, die wir zusammen mit dem GDV überarbeitet haben.

Gorr: Aber: wie bereits erwähnt ist das Optimierungspotential immer noch enorm.

Manche Anbieter wollen schon bald BU-Policen im Internet verkaufen. Können Sie Kundinnen und Kunden empfehlen, diese komplexen Policen online abzuschließen — zum Beispiel, wenn sie sich vorab informiert haben?

Zimmermann: Nur kundenverständliche BU-Policen haben die Chance, diesen Zweck zu erfüllen. Sie sind aber auch die einzige realistische Möglichkeit, mit den Versicherten bei sinkenden Vermittlerzahlen erfolgreich (und kostengünstig) zu kommunizieren.

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Gorr: Ganz klar: die AVB der heutigen BU-Verträge sind in hohem Maß irreführend und ohne fachkundige Erläuterung völlig unverständlich. Wir können derzeit nur davor warnen, solche Policen online zu kaufen. Jeder, der heute die aktuell angebotenen Policen über einen Vermittler kauft, und diesen die unklaren Vertragsinhalte erläutern lässt, kann im Schadenfall gegebenenfalls zumindest auch noch den Vermittler in Anspruch nehmen.

...im Leistungsfall über 30 DIN A4-Seiten mit Fragen

Versicherungsbote: Sie fordern, dass derartige Bedingungswerke leicht verständlich formuliert werden. Wiederholt las ich schon das Argument: Die Bedingungen seien auch deshalb so komplex, weil das für die Rechtssicherheit der Klauseln notwendig sei: das erfordere Fach- und Versicherungssprache. Ist da nicht etwas dran?

Zimmermann: Nein. Das ist ein uraltes Argument mancher Juristen. Wie ich in meinem Beitrag „Verständlich und doch gerichtsfest“ (VersicherungsJournal Extrablatt 4/15) gezeigt habe, ist die transparente und rechtssichere Textsorte nicht der Rechtstext, sondern der einen Risikotransfer beschreibende Laientext. In diesem Sinne hat der Jurist Hans-Peter Schwintowski zum Thema „Rechtssicherheit“ Stellung genommen. Danach sei nach Versicherungsvertragsgesetz (VVG § 1) eine Versicherung ein Vertrag, durch den jemand ein wirtschaftliches Risiko auf einen Versicherer überträgt; hierfür zahle er ein Entgelt. (ZfV 12/2014, 369). Ein solcher Risikotransfer müsse nicht mit Mitteln der Rechtssprache formuliert werden; „es ist viel naheliegender, die Übernahme des Risikos mit den Wörtern der Alltagssprache zu umschreiben“ (ebda.).

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Im Übrigen: Das Transparenzgebot des § 307, Abs. 1 Satz 2 BGB sagt: „Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.“ Und das Versicherungsvertragsgesetz bestimmt in § 6 (2): „Der Versicherer hat dem Versicherungsnehmer den erteilten Rat und die Gründe hierfür klar und verständlich vor dem Abschluss des Vertrags in Textform zu übermitteln (kursive Hervorhebungen durch Zimmermann)".

Die Versicherer wehren sich gegen den Vorwurf, sie würden den Kunden vorsätzlich Leistungen verweigern. 78 Prozent der Leistungen würden problemlos bewilligt und viele Renten nur deshalb nicht ausgezahlt, weil sich der Antragsteller nicht wieder meldet, argumentiert der GDV. Sind derartige Einwände nicht begründet, so dass auch Vorurteile gegenüber der Branche zur fehlenden BU-Abschlussbereitschaft beitragen?

Gorr: Nahezu alle BU-Versicherer verschicken im Leistungsfall über 30 DIN A4 –Seiten an Fragen. Berufsunfähige sind damit völlig überfordert und geben ohne die Hilfe eines sachkundigen Vermittlers, Leistungsfallbegleiters oder Rechtsanwalts oftmals auf. Aber selbst wenn dieser erste Schritt erfolgreich geschafft ist, dann sind viele BU-Versicherer sehr kreativ, wenn es um Ablehnungsgründe geht. Mal findet sich kein Gutachter, dann ist die Befundtiefe der Gutachten nicht ausreichend, der Leidensdruck nicht deutlich genug, der Versicherte habe sich nicht an gesetzliche Arbeitszeiten gehalten oder man teilt mit, dass sogenannte Arbeitsplatzkonflikte nicht versichert seien. Vieles davon ohne AVB-Grundlage.

Die Zahl der „Bewilligungen“ – die Bezeichnung des GDV steht ja schon für sich – in Höhe von 78 Prozent ist nach unserer Erfahrung aus zahlreichen Projekten und der aktiven Leistungsfallbegleitung überhaupt nicht nachvollziehbar. Der GDV verkündet zwar seit Jahren eine Leistungsquote um die 75 Prozent. Mehr aber auch nicht. Es gibt keine weiteren Angaben darüber, wie hoch die Erst-Ablehnungs-Quote ist, wie viele Kunden erst nach einer gewonnen Klage ihre Leistung erhalten und wie viele Vergleiche im Rahmen eines zeitlich sehr lange dauernden Leistungsprozesses erfolgt sind. Die BU-Verträge sind alles andere als transparent und für Kunden und Vermittler in ihren Auswirkungen kaum kalkulierbar.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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