Schon vor Jahren war sie im politischen Diskurs: Eine Vollversicherung, in der gesetzliche und private Pflegevorsorge nicht mehr nebeneinander bestehen, sondern in einer Versicherung zusammengeführt werden. Einst in die Diskussion gebracht durch den Sozialverband Deutschland (SoVD), erlebt die Forderung nun eine Renaissance in der SPD: Der Parteivorstand beschloss, eine solche Vollversicherung auf den Weg zu bringen, wie die Zeit mit Stand vom vorigen Samstag berichtet. Begründet sein dürfte dieser Schritt durch eine neue Studie.

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Das Ziel: Pflege-Vollkasko

Ziel der Forderung ist, aus der so genannten „Teilkaskoversicherung Pflege“ eine Vollkaskoversicherung zu machen. Der Begriff „Vollversicherung“ bezieht sich hierbei auf die Leistungsseite – alle Leistungen sollen abgedeckt sein. Der Begriff „Bürgerversicherung“ bezieht sich auf die Finanzierungsseite und das Zusammenführen der privaten und der gesetzlichen Versicherung: Alle Bürger sollen in eine Pflegeversicherung einzahlen.

Angriffspunkt der geplanten Reform sind steigende Kosten durch die "Teilkaskoversicherung Pflege". Keineswegs nämlich sollte die Pflegeversicherung alle Pflegeleistungen für Pflegebedürftige abdecken. Stattdessen wurde schon mit Einführung dieser zusätzlichen Säule der gesetzlichen Sozialversicherung in 1995 durch das Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) stets der ergänzende Charakter der Pflegeversicherung herausgestellt. Sowohl für Pflegebedürftige (z.B. durch Eigenanteil für die Unterbringung im Pflegeheim) als auch für leibliche Kindern von Pflegebedürftigen (durch den so genannten Elternunterhalt) bedeutet dieses Gesetz hohe Kosten. Eine Situation, die für die SPD in Zeiten des demografischen Wandels nicht mehr tragbar ist.

Rücklagen der privaten Pflegeversicherung: Begehrte Reserven

So äußerte Malu Dreyer als Interims-Parteichefin und rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin laut dem Hamburger Blatt: ""Wir wollen, dass die Pflegeversicherung eine solche wird, dass alle Leistungen voll versichert sind“. Mache es aus Sicht der SPD doch keinen Sinn, dass die Pflegeversicherung weiterhin auf zwei Säulen steht.

Zur Umsetzung der Pläne wolle man auch die Rücklagen der privaten Pflegeversicherung miteinbeziehen, die sich derzeit auf rund 34 Milliarden Euro belaufen. Eine keineswegs unumstrittene Idee mit Blick auf die rechtliche Umsetzbarkeit. Denn die Alterungsrückstellungen gehören den privat Versicherten. Sie werden angespart, um die Beitragslast im Alter zu reduzieren — Sie einfach wegzunehmen, könnte schlicht gegen das Gesetz verstoßen. Aus diesem Grund empörte sich der PKV-Verband als Interessen-Verband auch der privaten Pflegeversicherung im April diesen Jahres schon aufgrund eines Vorschlags von SPD-Politiker Karl Lauterbach, die Rücklagen der privaten Pflegeversicherung für steigende Pflegekosten anzugreifen (der Versicherungsbote berichtete).

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Doch auch die Vermittler-Branche wird sich wenig für den Vorschlag begeistern können. Denn mit Wegfall der Eigenvorsorge über die private Pflegeversicherung würde ein wichtiges Marktsegment der privaten Versicherungswirtschaft wegfallen.

Studie: Vollversicherung dringend geboten

Aber wie kommt es, dass die SPD plötzlich das Thema für sich entdeckt? Grund könnte eine aktuelle Studie der gewerk­schaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sein, die der Bremer Gesund­heitsökonom Heinz Rothgang mit einem weiteren Mitarbeiter ausführte. Der Wissenschaftler warnt vor stark steigenden Eigenanteilen bei der Pflege, die derzeit schon bei bundesdurchschnittlich 1.874 Euro im Monat liegen (der Versicherungsbote berichtete). Für die Zukunft aber wäre mit erheblichen Steigerungen der Pflegesätze zu rechnen.

Weil diese steigenden Eigenanteile eine Antwort verlangen durch die Politik, setzten sich die Wissenschaftler zum Ziel, einen Kritikpunkt zu prüfen, der stets gegen die Bürgervollversicherung vorgebracht wird: Den Kritikpunkt stark steigender und damit für Beitragszahler nicht zu finanzierender Beitragssätze in der Pflegeversicherung. Um das Argument zu prüfen, wurde für mehrere Zeitpunkte (2017 bis 2060) sowohl die Beitragsentwicklung mit dem jetzigen Status Quo als auch die Entwicklung bei Einführung der neuen Vollversicherung durchgerechnet. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis: Schreckens-Szenarien bei den Beiträgen aufgrund der Einführung einer Vollversicherung sind unbegründet.

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Denn der Beitragssatz läge in der Pflegebürgervollversicherung durchgängig nur sehr wenig über jenem im derzeitigen Status quo der Sozialen Pflegeversicherung. So würde die Mehrbelastung für zwei Drittel der Beitragszahler sogar weniger als fünf Euro im Monat betragen. Da die Wissenschaftler "ungerechte Belastungen im derzeitigen dualen Versicherungssystem“ behaupten sowie ein „Gerechtigkeitsdefizit zwischen Sozial- und Privatversicherten“ diagnostizieren, wäre schon durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine solche Vollversicherung in der Pflege notwendig.

Hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 3. April 2001 zur Verfassungskonformität einer obligatorischen privaten Pflegeversicherung doch eine „ausgewogene Lastenverteilung“ als normativen Maßstab für das duale Versicherungssystem vorgegeben. Aus Sicht der Wissenschaftler jedoch schafft das jetzige System keine derartige und ausgewogene Verteilung der Lasten zwischen privat- und gesetzlich Pflegeversicherten.

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