Versicherungsbote: Viele Versicherer haben große Personalbestände, warum ist das so?

Anzeige

Stephen Voss: Versicherungen gab es schon lange vor der Digitalisierung. In Deutschland gibt es die ersten organisierten Versicherungen seit Mitte des 17. Jahrhunderts, die erste davon ist die Hamburger Feuerkasse, gegründet in 1676. Im frühen 19. Jahrhundert folgten dann in einer ersten Gründungs-Welle und 1820/1830 die ersten echten überregionalen Versicherungen. Für die damalige Zeit war dieser Kollektivgedanke bemerkenswert disruptiv, wie man das heute nennen würde. Ohne Computer und Co. bedeutete das aber auch viel manuelle Bearbeitung und Organisation. Auch nach gut 200 Jahren ist in einigen Bereichen viel manuelles Handwerk übrig geblieben.

Wieso wird noch manuell gearbeitet? Ist das aus Ihrer Sicht erforderlich?

Stephen Voss, Vorstand und Gründer der Neodigital Versicherung AG mit Sitz in Neunkirchen im Saarland.NeodigitalDas ist einfach erklärt. Viele wissen das nicht mehr, aber die ersten echten digitalen Bestandsführungssysteme wurden erst Mitte der 1980er bei den Versicherern eingeführt. Das waren raumfüllende Monster mit lokalen Terminals, davor galt Aktenhaltung. Und die neuen Systeme konnten anfangs nicht viel, maximal Adressdatenverwaltung, Angaben zum Versicherungsnehmer sowie Versicherungsdauer und rudimentäre Vertragsdaten. Selbst Anfang der 90er Jahre gab es zwar PCs, aber eben auch noch oft für jeden Kunden eine Karteikarte, Einzelheiten mussten mühsam über ein Terminal zum Hauptsystem angefragt werden. Wir halten diese Technik gemeinhin für überholt, aber sie ist immer noch im regulären Versicherungsbetrieb zu finden.

Viele aktuelle Systeme in der deutschen Versicherungsbranche basieren immer noch auf der Technik der Neunziger – natürlich angereichert um benutzerfreundliche APIs, aber die Systemlandschaft ist oft heterogen und nur mühsam vernetzt. Vorgänge von Kunden müssen parallel in mehreren Systemen angelegt und gepflegt werden. Eine Adressänderung in der Hausratversicherung kann dazu führen, dass die Stammdaten erst im Bestands-, dann im In-/Exkasso-System geändert werden müssen. Und falls der Kunde noch einen Lebensversicherungsvertrag hat, zusätzlich im System der Lebensversicherung. Getrennte Systeme sind auch heute keine Seltenheit.

Was macht dieses Personal denn genau?

Nun einfach gesagt: das, was eine elektronische Schnittstelle in einem modernen System heute auch machen würde. Die eingegangenen Informationen erfassen, bewerten und daraus interne Prozessschritte und Geschäftsvorfälle ableiten. Nur, dass in einem modernen vernetzen Bestandsführungssystem diese Daten direkt elektronisch erfasst werden und automatisiert die nachfolgenden Prozessabläufe direkt - ohne manuelles Zutun - ausgelöst werden. Das erfolgt bei vielen Versicherungen heute noch manuell.

Ein Beispiel: Der Kunde meldet einen Schaden. Dies erfolgt zumeist noch unstrukturiert per Telefon oder Post. Das heißt ein Brief geht ein, wird gescannt und erscheint im Workflow des Mitarbeiters mit einer mehr oder weniger vollständigen Schadenmeldung. Diese muss gelesen, danach im System der Schaden angelegt werden. Ein Mitarbeiter muss eine Schadenerstreserve setzen – so die Informationen denn ausreichen. Reichen sie nicht aus geht ein – meist manuell - erstelltes Schreiben wieder zurück an den Kunden. Die Antwort muss wiederum gescannt, erfasst und eingegeben werden. Dann wird geprüft und ggf. ein Schadengutachter bestellt. Das Alles bindet unglaublich viel Ressourcen und kostet Zeit. Keine Überraschung also, dass viel Personal vorgehalten werden muss bei einem Versicherer, der Jahrzehnte existiert und Millionen an Kunden hat.

Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem?

Anzeige

Die Erwartungen des Kunden haben sich viel dynamischer entwickelt als die Systeme der etablierten Versicherer. Man kannte in den Neunzigern und frühen Zweitausendern keine „Echtzeit-Kommunikation“ mit dem Versicherer. Es reichte also aus, dass ein Versicherer sich auf seine Kernkompetenzen konzentrierte: das Underwriting, also die Beurteilung von Risiken und das Bereitstellen von risikomindernden Produkten, das Verwalten von Kundenstammdaten sowie den Vertrieb seiner Produkte. IT und Technologie wurden ausgelagert. Eigene Strukturen für die Weiterentwicklung der IT-Systeme und der Herstellung von Interfaces zu externen Abnehmern, wie Kunden-Apps, Vergleichsportalen, Maklerverwaltungsprogrammen etc., gab es kaum. All das wird gerade mühsam aufgebaut. Da ist für einige Versicherungsunternehmen noch ein weiter Weg zu gehen.

...der Arbeitsplatz wird viel fachorientierter werden

Versicherungsbote: Welchen Einfluss wird die Digitalisierung auf den Arbeitsplatz der Zukunft haben?

Stephen Voss: Der Arbeitsplatz wird viel fachorientierter werden und mehr zur Orchestrierung der einzelnen automatisierten Geschäftsvorfälle dienen. Der einzelne Mitarbeiter trägt mehr Verantwortung für den Prozess hinter einem Vorfall. Denn einfache Prozessschritte wie das Erfassen und Kategorisieren von Daten, vormals manuell, werden durch regelbasierte Systeme auf strukturierten Datenmasken erfolgen und, falls sinnvoll, durch künstliche Intelligenz, die den Inhalt der Information bewertet, ergänzt. Das bedeutet, für eine einfache Adressänderung oder den Wechsel der Bankverbindung braucht es schon lange keinen hoch qualifizierten Versicherungsmitarbeiter mehr. Und die - vor allem in den späten Zweitausendern eingeführten - „Service-Center“ mit „angelernten“ günstigeren Service Mitarbeitern werden durch die zunehmende Automation an der Kundenschnittstelle auch reduziert werden.

Anzeige

Wie wird sich die Personalstruktur der Zukunft verändern?

Einfache aber vormals manuell aufwendige Schritte in der Wertschöpfungskette eines Versicherers werden durch automatisierte Lösungen ersetzt. Dies setzt Ressourcen frei, die im besten Fall für qualifizierte Aufgaben oder die qualitative Bewertung von Geschäftsvorfällen eingesetzt werden können. Einfaches Erfassen von Briefpost, das Kategorisieren von Geschäftsvorfällen und das Übertragen in multiple Systeme entfällt zum größten Teil. Das heißt, die eigene Personalstruktur wird sich zu einem System von Spezialisten und Organisatoren wandeln, angereichert um IT-Ressourcen, welche die Schnittstellen etablieren und weiterentwickeln.

Welche Herausforderung haben dabei die Versicherer als Arbeitgeber?

Anzeige

Die größte Herausforderung in einer digitalen Welt für einen Versicherer wird darin bestehen, die notwendigen Talente und Fachkräfte für sich zu begeistern und langfristig zu halten. Erfolgreiche Absolventen eines bekannten IT-Lehrstuhls für angewandte Technologie und Datensysteme wählen in der Regel eher das agile Web-App-Entwicklungsunternehmen für moderne Shop-in-Shop Systeme auf Basis moderner KI, APIs und Microservices als Arbeitgeber, als einen traditionsreichen Versicherer, bei dem Bestandssysteme entwickelt werden sollen. Hierauf muss die Versicherungswirtschaft ganz klar Antworten finden und an Attraktivität gewinnen. Und da ist es auch egal, ob Versicherungskaufmann oder IT-Entwickler. Beide werden gebraucht, beide benötigen attraktive Anreize und nur beide zusammen entfalten ihr ganzes Potential. Sowas nennt man Synergie.

Seite 1/2/

Anzeige