Es klingt erstmal gut, was die Lehrer in Baden-Württemberg ihren Schülern am Montag in die Hand geben werden: einen Antrag auf einen „Versicherungsausweis für Schüler-Versicherungen“. Ab einem Euro pro Schuljahr sind die Policen zu haben. Damit werden die Lehrer zu Versicherungsvermittlern, denn die Verträge werden von zwei öffentlichen Versicherern zur Verfügung gestellt: die Badischen Versicherungen (BGV) sowie Württembergischen Gemeindeversicherungen (WGV). Herr Kaiser kommt sozusagen ins Klassenzimmer und hat sich als Klassenlehrer verkleidet.

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Die Praxis ist umstritten, aber lange etabliert. Bereits seit dem Oktober 1998 werden die private Versicherungen von Lehrern vertrieben, ganz offiziell im Auftrag des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport. Möglich macht dies eine Verwaltungsvorschrift des Landes. Lange hat der Vorgang kein Aufsehen erregt. Bis schließlich der „Spiegel“ im Januar 2018 prominent das Thema aufgriff (der Versicherungsbote berichtete).

Gefährliche Lücken - und Lehrer als kostenlose Vertreter

Die Schülerversicherungen wurden am Montag von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erneut thematisiert. Demnach gebe es nun neue Kritik an der Vertriebspraxis durch die Lehrer. Peter Grieble von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg berichtet gegenüber dem Blatt, dass sich vermehrt Eltern beim Verbraucherschutz beschwert hätten. Sie fühlen sich schlicht unter Druck gesetzt. Die Versicherungen werden jedes Jahr an 1,5 Millionen Schüler verteilt.

Auch die FDP im Landtag fordert eine Überprüfung. Die Schülerversicherung sei „auf ihre Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Angemessenheit hin gründlich zu prüfen“, heißt es in einem Antrag, den die Liberalen an die schwarz-grüne Landesregierung stellten.

Die Kritikpunkte beziehen sich sowohl auf die Leistungen der Schülerversicherung als auch den Vertrieb durch die Lehrer. Die Schülerzusatzversicherung soll eigentlich die Lücken der gesetzlichen Unfallversicherung schließen. Aber viele Leistungen des Kombi-Produktes sind unnütz und zum Teil auch unzureichend. So beinhaltet die Police einen Haftpflichtbaustein, obwohl Kinder in der Regel bereits über die Haftpflichtversicherung der Eltern abgesichert sind.

Ebenfalls fragwürdig ist die integrierte Unfallversicherung. Die Schüler haben nur Anrecht auf eine Zahlung, wenn sich der Unfall in der Schule oder auf dem Weg dorthin ereignet hat. Hier greift bereits die gesetzliche Unfallversicherung. Muss ein anderer Versicherer zahlen, sind die Produktgeber der Schülerversicherung fein raus: sie sind dann nicht zu einer Leistung verpflichtet.

Immerhin: Es gibt Bonus-Bausteine, die aber ebenfalls eng an Aktivitäten im Kontext der Schule geknüpft sind. So greift der Unfallschutz etwa auch, wenn der Schüler in der Freistunde privat einkaufen geht - hierfür zahlt die gesetzliche Unfallkasse nicht. Die vereinbarte Grundsumme bei Invalidität ist mit 50.000 Euro sehr gering (der Versicherungsbote berichtete).

Was qualifiziert Lehrer für Versicherungsvertrieb?

Mit Blick auf den Vertrieb stellt sich die Frage, was die Lehrer für den Verkauf dieser Policen qualifiziert. Wer in Deutschland Versicherungen verkaufen will, muss laut Gesetzgeber eine entsprechende Zulassung und Qualifikation nachweisen. Die Lehrer haben sie nicht. Sie sammeln aber nicht nur Anträge ein, sondern auch gleich das Geld, um es an die öffentlichen Versicherer weiterzugeben. Im Grunde handeln sie als Versicherungsvertreter.

Müssten die Eltern zu den Leistungslücken der Verträge nicht umfassend beraten werden? Ein potentielles Haftungs-Risiko könnte zum Beispiel daraus resultieren, dass sie auf eine extra Invaliditätsversicherung für ihr Kind verzichten, weil sie glauben, hierfür leiste bereits die Schülerversicherung. Nicht wissend, dass der Schutz nur in der Schule, bei schulischen Veranstaltungen und dem Weg dorthin besteht - und eben nicht für Unfälle in der Freizeit.

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„Abgesehen davon, dass das Produkt von Personen vertrieben wird, die keine Ahnung davon haben: Die Leistungen sind grottenschlecht“, sagt Bianca Boss vom Bund der Versicherten (BdV). Der Verband hat die Schülerversicherung zum "Versicherungskäse des Jahres" gekürt - eine Auszeichnung für angeblich besonders nutzlose Versicherungen.

vorsichtiges Umdenken?

Die Kritik bewirkt nun offenbar, dass die Schülerversicherungen tatsächlich auf den Prüfstein kommen. Im Landtag Baden-Württembergs gibt es vermehrt Stimmen, die diese Policen in Frage stellen. So hatte die FDP die Verträge selbst noch verteidigt, als sie in Regierungsverantwortung war. Nun fordert sie eine Überprüfung der Schülerversicherung.

Zwar sei der Antrag der FDP/DVP-Fraktion von der Regierungsmehrheit abgelehnt worden, berichtet die "FAZ". Aber auch das Kultusministerium der CDU-Politikerin Susanne Eisenmann zeige ein erstes Umdenken. Auf Nachfrage sagt eine Ministeriumssprecherin dem Blatt, dass „man die Praxis hinterfragen und über andere Wege nachdenken muss, wie man diese Versicherung vertreibt“. Die Versicherer BGV und WGV haben bereits eine Alternative: Sie bieten Schulfördervereinen und Schulträgern die Verträge als Komplettpaket für alle Schüler an. Zumindest der Vertrieb über die Lehrer würde so entfallen.

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1.000 zu 177.000 Leistungsfälle

Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Verträge würden aber weiterhin bestehen bleiben, auch wenn die Policen fortan über Schulen und ihre Vereine vertrieben werden. Das verdeutlicht auch die vergleichsweise geringe Zahl an Leistungsfällen. Etwas mehr als 1.000 Schadenfälle im Rahmen der Schülerzusatzversicherung hat die BGV 2017 im badischen Raum regulieren müssen, berichtet der Versicherer auf Nachfrage der FAZ. Wie viel Geld dafür ausgegeben wurde, wollte der Versicherer nicht sagen.

Die gesetzliche Unfallkasse Baden-Württembergs hatte da unweit mehr zu tun. Sie sprang für 177.000 Versicherungsfälle von Schülern ein. Das sind stolze 17.600 Prozent mehr Leistungsfälle, als die BGV mit ihrem privaten Kombiprodukt hatte.

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