Robin Kiera: Mich beeindruckt grundsätzlich jedes mutige Unternehmen, das es wagt Zeit und Nerven in die Veränderung der Versicherungswirtschaft zu investieren - zum Wohle des Kunden. Sowohl unter den älteren als auch unter den neueren Insurtech Start-Ups in Deutschland, aber auch in den USA, China, MENA („Middle East and North Africa“) und Europa, gibt es beeindruckende Unternehmen, von denen wir - meiner Meinung nach - noch hören werden.

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Das größte disruptive Potential sehe ich kurzfristig allerdings in Asien bei Tencent und Alibaba und in der westlichen Welt bei Amazon. Amazon baut gerade unter größter Geheimhaltung eine wohl 100 Personen starke Versicherungseinheit in London auf, um die größten Märkte in Europa anzugreifen. Auch Deutschland. Darüber hinaus haben sie angekündigt zusammen mit Berkshire Hathaway und JP Morgan in den USA eine neue Krankenversicherung zu gründen. Beides deutet auf eine übergeordnete Strategie hin, dass Amazon sich als nächstes die Versicherungswirtschaft vorknöpft. In den Vorstandsetagen sollten die Alarmsirenen jetzt im Dauerbetrieb sein.

„Die Revolution frisst ihre Gründer“, schrieb vor Kurzem das „Handelsblatt“. Viele Insurtechs hätten es schwer und müssten wieder die Segel streichen. Was braucht denn ein Insurtech, um sich erfolgreich auf dem Markt zu etablieren?

Es fehlt in Deutschland an einer einzigen Sache: Geld. In Deutschland erleben wir leider gerade, dass viele gute Gründer mit sehr guten Teams enorme Anstrengungen unternehmen müssen, bescheidene Summen von Investoren einzusammeln. All dies geschieht, während viele Versicherer Milliarden für Wohlfühlprojekte verpulvern.

Sie beobachten auch das internationale Geschehen. Gibt es disruptive Trends auf anderen Versicherungs-Märkten, wo man derartige Innovationen nicht unbedingt vermutet?

Ich bin tatsächlich viel in Asien, USA, MENA und Europa unterwegs. Mich beeindruckte vor allem Folgendes: China ist längst keine Copy-Cat mehr, sondern ein Technologieführer. Ten- cent hat es mit dem Kommunikationstool “WeChat” geschafft, ein Ökosystem von Services seinen Kunden zur Verfügung zu stellen. Diese verbringen nicht nur viel Zeit innerhalb der App, sondern geben auch sehr viel Geld darin aus. So kann man etwa mit QR-Codes seinen Einkauf bezahlen oder Freunden unkompliziert Geld schicken - und natürlich Versicherungen abschließen. Dass es der volldigitale Versicherer Zhong-An innerhalb von wenigen Jahren geschafft hat in China über 7,2 Milliarden Mikroversicherungen zu verkaufen, ist schlicht- weg atemberaubend. Das Insurtech legte auch einen beeindruckenden Börsengang hin: fast 12 Milliarden Euro.

In den USA sehen wir immer mehr Insurtech-Start-Ups, die sich nicht nur auf den Verkauf von Versicherungen konzentrieren, sondern dem Kunden ein Ökosystem von Services zur Ver- fügung stellen, um dessen Leben zu erleichtern. Erst nach der Befriedigung von Kundenbedürfnissen kommt der Verkauf. Erste Ausläufer dieses Trends sehen wir jetzt schon bei neueren Insurtech oder Healthtech-Start-ups.

Unsere wichtigste Lesergruppe sind Versicherungsmakler und Finanzanlagenvermittler. Es gibt Prognosen, wonach die Digitalisierung den Vertrieb geradezu leer fegen könnte: Immer mehr Kunden könnten per Blockchain und automatisierter Textbausteine zu Versicherung und Geldanlage beraten werden. Müssen Vermittler um ihren Job fürchten? Wird Alexa der neue Herr Kaiser sein?

Heutzutage leiht niemand mehr DVDs aus. Die Leute schauen Netflix. Man geht auch nicht mehr in den CD-Laden, sondern streamt bei Spotify. Es werden auch fast keine Briefe ver- schickt, sondern Chatnachrichten. All diese Technologien haben sich durchgesetzt, da sie dem Kunden das Leben enorm erleichtert haben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dies auch in der Versicherungswirtschaft geschieht. Wenn Versicherer sich nicht selbst disruptieren, dann werden dies andere tun. Mein befreundeter Allianz-Agenturist fragte mich letztens scherzhaft: “Robin, soll ich jetzt aufgeben?” Ich riet ihm: “Versuch deine bisherigen Erfolgsrezepte mit den gigantischen Möglichkeiten digitaler Tools und Methoden zu verknüpfen. Denke auch über neue Geschäftsmodelle und Services nach. Hierfür musst du aber die selbstzufriedene Blase der deutschen Assekuranz verlassen. Besuche versicherungsfremde Technologiekonferenzen, schaue dir innovative Talks auf Youtube an, folge Thought Leadern auf Linkedin und Twitter. Probiere in deinem Unternehmen Dinge - wie Daily Stand-ups, Retrospektiven oder Guerilla-Internetmarketing - einfach mal aus.”

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Die Fragen stellten Jenny Müller und Mirko Wenig

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