Versicherungsbote: In ihrem Sondierungspapier haben sich Union und SPD darauf geeinigt, eine Grundrente einzuführen. Sie haben die Renten-Pläne im Interview mit „Bild am Sonntag“ als „Sündenfall in der Rentenpolitik“ bezeichnet. Was ist schlecht daran, wenn Menschen, die lange in die Rentenkasse einzahlen, eine höhere Rente erhalten?

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Bernd Raffelhüschen: Der Sündenfall hätte noch größer kommen können. Aber auch so sind die Vorhaben der Koalitionäre eine heikle Sache, weil man zu Lasten zukünftiger Generationen gegenwärtig lebende Alte mit Wahlkampfgeschenken beglückt, die man besser nicht hätte versprechen sollen.

Im Interview mit der „Bild am Sonntag“ warnen Sie vor den hohen Kosten der Grundrente. Wer nach 35 Beitragsjahren in Rente gehe, lebe lebe im Schnitt noch 30 Jahre – ab 2025 sei das System kaum noch finanzierbar. Ansonsten würden Sie die Idee der Grundrente aber begrüßen?

Raffelhüschen: Das Versprechen einer Grundrente ja schon deshalb Blödsinn, weil wir bereits die Grundsicherung im Alter nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch haben. Eine Grundrente brauchen wir deshalb nicht einzuführen, denn wir haben sie bereits. Die Grundsicherung ist die Grundrente!

Wenn man allerdings die Grundsicherung im Alter anhebt auf einen Wert oberhalb des Sozialhilfeniveaus und sagt: Alte Arme sollen es besser haben als junge Arme, dann bedeutet dies, dass unser letztes Sicherungsnetz nicht für alle gleich ist. Sondern dass bestimmte Gruppen, nämlich die Alten, besser gestellt werden als die Jungen. Das ist ein Sündenfall sondergleichen, weil die Grundsicherung ja bereits das letzte Netz darstellt. Und in der Grundsicherung sind alle gleich, Männer wie Frauen, Junge wie Alte, West- wie Ostdeutsche und Inländer wie Ausländer. Das ist ja das Wesen des letzten Netzes: dass es keine Unterschiede mehr geben soll.

Versicherungsbote: In der aktuellen Rentendebatte scheint es zwei große Lager zu geben: Jene, die vor den explodierenden Kosten der Demografie warnen. Und jene, die sagen: es ist egal, ob die Gesellschaft altert. Wenn die Produktivität zunimmt, können wir auch höhere Renten finanzieren. So argumentiert unter anderem Ihr Kritiker Gerd Bosbach, Statistik-Professor in Koblenz…

Raffelhüschen: Es gibt nicht zwei große Lager in der Rentendebatte, sondern nur eins: Das Lager derjenigen, die sagen, die Demografie müssen wir in irgendeiner Weise in den Griff bekommen. Das Lager, das argumentiert, man könne durch Produktivitätsfortschritte das Problem lösen, hat im Matheunterricht nicht gut aufgepasst. Denn langfristig wachsen die Löhne wie die Beiträge zu den Renten mit der Produktivitätssteigerung plus dem Inflationsausgleich. Dieses Lohnsummenwachstum wird eins zu eins an die Rentner weitergegeben. Insofern halten jene, die glauben, dass Produktivität das Demografieproblem in der gesetzlichen Rentenversicherung löst, es offensichtlich auch für gegeben, dass sich nur alle auf die Zehenspitzen stellen müssten, damit auch alle besser sehen als zuvor. Das halte ich für absoluten Blödsinn.

Versicherungsbote: Die gesetzliche Rente muss sich ja auch legitimieren für nachfolgende Generationen. Wenn ich auf meinen Rentenbescheid schaue, was ich einmal an Rente zu erwarten habe, wird mir ganz angst und bang. Da kann ich doch auch fragen: Warum zahle ich überhaupt ein, wenn ich später ohnehin nur eine Rente auf Grundsicherungsniveau zu erwarten habe? Das droht ja selbst Menschen mit mittleren Einkommen.

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Raffelhüschen: Die Frage ist eigentlich leicht beantwortet: Sie zahlen deshalb ein, weil Sie müssen. Und wenn Sie es nicht müssten, würden Sie sich das vielleicht anders überlegen. Aber das ist ein ganz anderes Kapitel. Wir haben das Umlageverfahren. Und das ist eigentlich auch gar nicht schlecht, wenn man es denn in Ruhe ließe. Tatsache aber ist, dass Politiker immer ihre Geschenke verteilen, aber die Steuern und Beiträge hierfür auch nicht erhöhen wollen. Deshalb schaffen sie sich Hintertürchen, und damit steigen auf längere Frist dann doch die Beiträge oder Steuern.

"Ein staatlicher Kapitalstock ist nicht vor dem Zugriff des Staates geschützt"

Versicherungsbote: Wie positionieren Sie sich zu der Idee, dass man einen Kapitalstock bei der gesetzlichen Rente aufbauen könnte, etwa mit dem Aufbau eines Staatsfonds? Mit dem Konzept der Deutschland-Rente wird ein solches Modell für Deutschland diskutiert. Befürworter betonen die niedrigen Verwaltungs- und Vertriebskosten. Wäre das aus Ihrer Sicht eine wünschenswerte Lösung?

Raffelhüschen: Einen staatlichen Kapitalstock anzusparen, das haben wir ja schon mehrfach gemacht in Deutschland, das letzte Mal für die Rückstellungen der alten Postbeamten. Und wir mussten immer wieder die Erfahrung machen, dass die Politiker auf Kapital alles andere als gut aufpassen: Sie geben das Kapital auch gern wieder aus und zwar für andere als die gedachten Zwecke. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kapitalstock in Staatshand ist so ähnlich, als würde man einem Hund zwei Knochen hinschmeißen und sagen: Pass auf, einer ist für morgen!

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Versicherungsbote: Oft wird Norwegen mit seinem Staatsfonds als Vorbild genannt, wo das ja anscheinend doch ganz gut funktioniert. Der Fonds hat 865 Milliarden Euro angespart.

Raffelhüschen: Das Beispiel Norwegen wird gern von Leuten genannt, die das norwegische Kapitaldeckungsverfahren nicht kennen. Da ich seit 25 Jahren auch eine Teilzeitprofessor in Norwegen habe, bin ich mit der Entwicklung des Staatsfonds von Beginn an vertraut. Ein Kapitalstock in Staatshand ist nur dann vor Zugriffen durch die Politik geschützt, wenn in allen Staatshaushalten Überschüsse erwirtschaftet werden: Das ist in Norwegen der Fall und ein wirksamer Schutz davor, dass sich die Politik nicht am Fonds bedient. Auf Deutschland lässt sich das Modell schlecht übertragen – wir haben halt kein Öl und Gas.

Versicherungsbote: Die große Koalition hat bereits vor der Bundestagswahl Gesetzesreformen umgesetzt, mit der sie Schwachstellen der privaten und betrieblichen Altersvorsorge ausgebessert hat. Beispiel Geringverdiener: eine bestimmte Rentenhöhe wird künftig vor dem Zugriff der Sozialämter geschützt sein, wenn Riester-Sparer auf Grundsicherung angewiesen sein werden. Werten Sie diese Reformen als ausreichend – oder wo sehen Sie weiteren Reformbedarf?

Raffelhüschen: Die Masse der Reformen ist ausreichend. Wir brauchen eigentlich nur noch das gesetzliche Rentenzugangsalter zu diskutieren. Vielleicht auch im Sinne Norwegens, wo gesagt wird: „Wenn man länger lebt, dann muss man auch länger arbeiten.“ Da könnte man sich Norwegen nun doch einmal zum Vorbild nehmen.

Aber die letzten Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung bedeuten einen Rückschritt gegenüber den Reformen zuvor. Da, wo Herr Müntefering von der SPD uns die Rente mit 67 aufs Auge gedrückt hat, was völlig richtig war, weil es die Rentenkasse entlastet, hat Frau Nahles uns die Rente mit 63 aufs Auge gedrückt, und das war falsch. Denn die Rente mit 63 erzeugt zusammen mit der Mütterrente geschätzt Mehrkosten von 15 Milliarden Euro im Jahr.

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...im zweiten Teil des Gesprächs haben wir mit Bernd Raffelhüschen über die Herausforderungen der Riester-Rente und der privaten Altersvorsorge gesprochen. Es wird kommende Woche auf der Webseite des Versicherungsboten erscheinen. Die Fragen stellte Mirko Wenig.

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