SPD-Chefin Andrea Nahles fordert von ihrer Partei, dass sie Debatten über die umstrittenen Hartz-Reformen von Gerhard Schröder beendet. Die SPD brauche eine Zukunftsdebatte anstelle eines Blicks zurück, sagte Nahles am Samstag auf dem Parteitag der Berliner SPD. Deshalb solle lieber eine neue Sozialreform „Agenda 2030“ angestrebt werden.

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Ähnlich positionierte sich bei der Veranstaltung der amtierende Berliner Bürgermeister und Parteigenosse Michael Müller. Die SPD müsse aus der elenden Hartz-IV-Debatte rauskommen und den Blick nach vorn richten, sagte Müller. Und weiter: „Wir drehen uns im Kreis, wenn wir weiter an diesem System herumdoktern.“

Die Hartz-Reformen der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, weitestgehend eingeführt ab dem Jahr 2004, sind umstritten. Befürworter sehen darin einen Grund für den wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik und die niedrige Arbeitslosigkeit. Kritiker verweisen darauf, dass der Niedriglohnsektor und die prekäre Beschäftigung -befristete Jobs, Teilzeit-, und Leiharbeit- infolge der Reformen explodierte. Unter anderem wurde die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum 1. Januar 2005 zusammengelegt. Nach dem Prinzip des „Forderns und Förderns“ wurden den Arbeitsagenturen Sanktionsmöglichkeiten gegen ALG II-Empfänger in die Hand gegeben, wenn sie etwa Fristen versäumen oder einen vorgeschlagenen Job nicht annehmen wollen.

“Armutsfeste Sozialleistungen“ und „weniger Druck“

Was Nahles mit „Agenda 2030“ meint, blieb sehr vage. Dennoch legen ihre Ausführungen nahe, dass sie Korrekturen bei der Agenda 2010 anstrebt. „Armutsfeste Sozialleistungen, weniger Druck und weniger Kontrollen, sichere Arbeitsverhältnisse – das muss wirklich neu gedacht werden“, zitiert sie die Deutsche Presse-Agentur (dpa).

Besonders an der Parteibasis der Sozialdemokraten rumort es nach der Schlappe bei der jüngsten Bundestagswahl. Die SPD hatte mit 20,5 Prozent das schlechteste Wahlergebnis seit Ende des Zweiten Weltkrieges eingefahren. Viele Sozialdemokraten machen dafür auch die vermeintlich unsoziale Politik der Partei mitverantwortlich, die Arbeitslosen und sozial Schwächeren kein Angebot mehr mache. Bei einer Regionalkonferenz in Berlin verteilte die Parteilinke Flugblätter, auf der sie „Neue Köpfe“ forderte – und auch eine Abkehr von der Agenda 2010.

Doch ein Umschwenken ist mit der aktuellen Parteiführung nur bedingt zu erwarten. Zwar hatte auch Parteichef Martin Schulz auf einer SPD-Regionalkonferenz in Berlin in der letzten Woche eine Distanzierung von Gerhard Schröder angedeutet. Er wolle die Sorgen der Parteibasis ernst nehmen, sagte er laut einem Bericht der „Lausitzer Rundschau“. Und weiter: „Basis statt Basta, das ist, was wir brauchen in der SPD.“ Worte, die sich klar gegen Gerhard Schröder richten, dem Medien das Label „Basta-Kanzler“ aufgedrückt hatten – wegen seiner mitunter dickköpfigen Art durchzuregieren.

Im Wahlkampf hatte Schulz die Hartz-Reformen noch verteidigt: sogar einen der umstrittensten Punkte, nämlich harte Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger. Schon wer einen Termin im Jobcenter verpasst, muss damit rechnen, dass die Hartz-Bezüge deutlich gekürzt werden. "Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen", sagte Schulz im Mai der "Rheinischen Post". Vielmehr gehe es darum, "dass sich selbstverständlich auch Bezieher von Hartz IV an bestimmte Spielregeln halten und etwa verabredete Gesprächstermine einhalten".

Debatte über Grundsicherung – mit Voraussetzungen

Der Vorstoß von Nahles zeigt nun aber, dass sehr wohl in der Partei über alte Fehler nachgedacht wird – und man bereit ist, die Hartz-Reformen zur Diskussion zu stellen, wenn auch vorsichtig. Mit der Forderung nach einer „Agenda 2030“ knüpft Nahles einerseits an die Reformen Schröders an - und stellt sie inhaltlich in Frage, wenn sie „weniger Druck und weniger Kontrollen“ fordert. Es ist ein argumentativer Spagat.

Dabei nahm Nahles am Samstag auch einen Vorschlag von Berlins Regierungschef Müller auf. Dieser hatte angeregt, ein sogenanntes solidarisches Grundeinkommen einzuführen und dies an bestimmte ehrenamtliche Leistungen zu knüpfen, etwa das Säubern von Parks, die Flüchtlingshilfe oder das Einkaufen für alte Menschen. Die Notwendigkeit eines Grundeinkommens sieht Müller auch vor dem Hintergrund der fortlaufenden Digitalisierung. "Viele Berufe wird es in einigen Jahren nicht mehr geben. Vor allem einfache Tätigkeiten werden wegfallen", hatte der Politiker in einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“ zu Bedenken gegeben.

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"Ich bin kein Freund des bedingungslosen Grundeinkommens", sagte nun Nahles am Samstag in Berlin. "Aber einige der Kritikpunkte, die da mitschwingen an dem jetzigen System, müssen wir doch aufnehmen und ernstnehmen."

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