Hebeln die Berufsunfähigkeitsversicherer das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) aus, um ihren Kunden mit fadenscheinigen Argumenten die Leistung zu verweigern? Das wirft der Versicherungsmakler und BU-Experte Matthias Helberg mehreren Anbietern auf seinem Blog vor. Er geht sogar soweit, dass er den Versicherern bewusste Täuschung unterstellt – und fordert ein Gegenlenken.

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Versicherer muss nach relevanten Krankheiten fragen

Konkret geht es um die vorvertragliche Anzeigepflicht beim Beantworten der Gesundheitsfragen. Im Jahr 2007 hatte der Gesetzgeber das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) im Sinne des Kunden konkretisiert und die Anzeigepflicht des Verbrauchers auf Gefahrumstände beschränkt, nach denen der Versicherer explizit gefragt hat:

Laut Paragraph 19 VVG muss ein Versicherungsnehmer bei Abgabe einer Vertragserklärung die „ihm bekannten Gefahrumstände“ anzeigen, „die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat“. (Hervorhebung durch den Autor). Im Umkehrschluss bedeutet das: Wonach der Versicherer im Antrag nicht fragt, das muss der Antragsteller auch nicht angeben.

Der Zweck dieser Neuregelung wird in der Begründung genannt: "Das Risiko einer Fehleinschätzung, ob ein Umstand gefahrrelevant ist, liegt (...) nicht mehr beim Versicherungsnehmer. Die Nachfrage nach einem bestimmten Umstand spricht dafür, dass dieser Umstand für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich ist (…).

Vereinfachte Gesundheitsfragen als Fallstrick

Einige Versicherer bieten nun Verträge an, die einen sehr eingeschränkten Fragekatalog mit Blick auf die Gesundheitsfragen vorsehen. Matthias Helberg berichtet gegenüber dem Versicherungsjournal, dass diese Verträge mehrfach vor Gericht verhandelt werden mussten: weil der Versicherer die Anzeigepflicht verletzt sah, obwohl die Verbraucher alle Gesundheitsfragen im Grunde korrekt beantwortet haben. Auch für Makler ein Haftungsrisiko. Dabei berufen sie sich auf ein Urteil, bei dem der Versicherte tatsächlich den Kürzeren zog - teils, indem dieses falsch wiedergegeben werde.

Im betreffenden Rechtsstreit wurde der Fall eines Orthopädietechnikers verhandelt, der seit 2002 an Multipler Sklerose litt. Dennoch schloss er noch im Jahr 2010 einen BU-Vertrag ab. Möglich machte dies ein Versicherer, der weitestgehend auf Gesundheitsfragen verzichtete. Stattdessen fand sich im Antragsformular auf Versicherungsschutz folgende Formulierung:

Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tag weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver Aids-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert und behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Arbeit nachzugehen.

Fragen korrekt beantwortet - Leistung wegen "arglistiger Täuschung" verweigert

Derartige Fragen kann selbst ein Antragsteller bei Bestehen bestimmter chronischer Krankheiten bejahen, erklärt Helberg. Und so beantwortete auch der Medizintechniker die Frage korrekt durch Ankreuzen des entsprechenden Kästchens mit "ja": trotz Multipler Sklerose. Dennoch verweigerte der Versicherer die Leistung, als der Mann schließlich aufgrund seiner Krankheit berufsunfähig wurde. Der BU-Versicherer wollte den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten und davon zurücktreten.

In diesem Fall urteilte das Landgericht Heidelberg tatsächlich zu Gunsten des Versicherers. Der Kunde habe eine unzutreffende Gesundheitserklärung abgegeben, denn unter Würdigung der Umstände sei davon auszugehen, dass er bereits beim Stellen des Antrages nicht im vollen Umfang seiner Tätigkeit nachgehen konnte. Gefahrerhebliche Umstände habe er zudem vorsätzlich verschwiegen.

Allerdings ist dieser Rechtsstreit nicht abschließend entschieden: es befindet sich im Berufungsverfahren vor dem OLG Karlsruhe unter Az. 12 U 156/16. Explizit betonen die Richter in ihrer Urteilsbegründung, dass es einer höchstrichterlichen Klärung bedarf, ob der Versicherer auch wegen chronischer Krankheiten im Vertrag zurücktreten kann, die er laut § 19 VVG gar nicht abgefragt hat. Diese Frage sei umstritten.

Chronische Erkrankungen nicht abgefragt

Obwohl der Ausgang dieses Rechtsstreites also offen ist, hat nun auch ein Kunde von Matthias Helberg mit Verweis auf das Urteil eine BU-Rente verweigert bekommen, so berichtet Helberg auf seinem Blog. Auch bei diesem Kunden wollte der Versicherer aufgrund einer chronischen Krankheit vom Vertrag zurücktreten, die er überhaupt nicht im Antrag abgefragt hatte. Und auch hier die Begründung: arglistige Täuschung.

Der leitende Angestellte habe an Diabetes sowie chronischer Niereninsuffizenz gelitten, berichtet Helberg. Doch im Antrag sei nach diesen Krankheiten nicht gefragt wurden. Stattdessen habe die einzige Frage zur Gesundheit gelautet: „Sind Sie uneingeschränkt arbeitsfähig, üben Ihre berufliche Tätigkeit in vollem Umfang aus und waren in den letzten 5 Jahren nicht länger als 2 Wochen zusammenhängend arbeitsunfähig?

Das habe der Antragsteller korrekt beantwortet. Er sei wie folgt auf seine Anzeigepflichten hingewiesen worden: „Welche vorvertraglichen Anzeigepflichten bestehen? Sie sind bis zur Abgabe Ihrer Vertragserklärung verpflichtet, alle Ihnen bekannten gefahrerheblichen Umstände, nach denen wir in Textform gefragt haben, wahrheitsgemäß und vollständig anzuzeigen.

„Spontane Anzeigepflicht“

Dennoch verweigerte der Versicherer die Leistung wegen arglistiger Täuschung. Hierbei machen mehrere Versicherer eine sogenannte spontane Anzeigepflicht geltend. Der Versicherer schreibt:

Das Verschweigen eines gefahrerheblichen Umstandes, den der Versicherer nicht nachgefragt hat, kann bei Arglist des Versicherungsnehmers ein Anfechtungsrecht des Versicherers begründen. Sie hätten uns deshalb sämtliche Erkrankungen und Beschwerden sowie die durchgeführten ärztlichen Behandlungen und Medikationen anzeigen müssen. (…) Der Tatbestand einer arglistigen Täuschung liegt vor. (…) Eine arglistige Täuschung liegt vor, wenn der Handelnde beabsichtigt, vorsätzlich – durch nicht der Wahrheit entsprechende Angaben – den Entschluss des Versicherers zur Annahme des Antrags zu beeinflussen. (…)

Wenn sich die Situation wirklich so darstellen sollte, wie dies die Versicherung hier beschreibt, würde das § 19 VVG geradezu auf den Kopf stellen. Denn nun liegt es in der Verantwortung des Kunden, einschätzen zu können, welche Erkrankungen für den Versicherer relevant sind. Er wäre in der Pflicht, auftretende oder frühere Erkrankungen dem Versicherer umgehend mitzuteilen: selbst, wenn sie nicht im schriftlichen Vertrag auftauchen und im Antragsformular nicht danach gefragt wurde. Das ist mit "spontane Anzeigepflicht" gemeint, so wie sie der Versicherer in diesem Fall interpretiert.

"Ich frage mich, wer hier eigentlich wen täuscht!"

"Ich frage mich, wer hier eigentlich wen täuscht", greift Helberg den Versicherer unmittelbar an. In seinem Blog schreibt er: "Da will ein Versicherer das BU-Geschäft ankurbeln und stellt dafür einen Antrag mit extrem vereinfachten Gesundheitsfragen zur Verfügung. Der potentielle Versicherungsnehmer wird über seine vorvertraglichen Anzeigepflichten korrekt informiert. Dieser beantwortet die Fragen wahrheitsgemäß (...). Ein paar Jahre später, im Leistungsfall, heißt es dann mit einmal: Sie hätten uns sämtliche Erkrankungen anzeigen müssen." Zudem werde oben genanntes Urteil falsch wiedergegeben und die ungeklärte Rechtsfrage verschwiegen.

Große Tragweite, viele Folgefragen

Helberg macht auf die Tragweite aufmerksam, was es bedeuten würde, wenn die "spontane Anzeigenpflicht" in diesem Sinne vor Gericht Erfolg hätte. Denn sie betreffe "alle Sparten, alle Anträge, alle Versicherer", nicht nur die BU-Sparte. Eine entsprechende Klausel würde zu enormer Rechtsunsicherheit führen und viele Folgefragen aufwerfen:

Dann müsste zum Beispiel ein Hobbyflieger beim Abschluss eines LV-Vertrages seinen Flugsport auch dann angeben, wenn explizit nicht nach Freizeitrisiken gefragt werde. Oder ein Versicherungsnehmer müsse seine nicht ärztlich behandelten wiederkehrenden Magenschmerzen angeben, obwohl der Versicherer nur nach ärztlich behandelten Leiden fragt. Und letztendlich müsste ein Kunde Krankheiten und Behandlungen nennen, nach denen ebenfalls nicht im Antrag gefragt wird.

Zugleich würde den Versicherern ein mächtiges Instrument in die Hand gegeben, bei der kleinsten Vorerkrankung Leistungen willkürlich abzulehnen und arglistige Täuschung geltend zu machen. Oder sie in lange Rechtsstreite zu verwickeln.

Versicherer unterlagen in anderen Fällen - Positionierung gefordert

Der Versicherungsmakler nennt folglich Urteile aus anderen Sparten, bei denen die Versicherer unterlagen, als sie sich auf die "spontane Anzeigepflicht" beriefen. Denn diese hat der Gesetzgeber stark eingeschränkt. So ging es beispielsweise in einem Rechtsstreit vor dem OLG Celle um die Entwicklungsverzögerung eines Kindes, die bei einer Pflegeversicherung nicht angegeben wurde: die Eltern triumphierten vor Gericht.

Es könne dem Versicherungsnehmer "in der Regel nicht als Verstoß gegen Treu und Glauben angelastet werden, wenn er den Fragenkatalog des Versicherers als abschließend ansieht und keine weitergehenden Überlegungen dazu anstellt, welche Umstände für den Versicherer darüber hinaus von Interesse sein könnten", urteilte etwa das OLG Celle am 09.11.2015 (Az. 8 U 101/15). Eine spontane Anzeigepflicht bestehe nur bei Umständen, "die offensichtlich gefahrerheblich, aber so ungewöhnlich sind, dass eine auf sie abzielende Frage nicht erwartet werden kann".

Matthias Helberg ist bei dieser Frage nicht untätig geblieben. Er habe viele Versicherer angeschrieben un um eine rechtssichere Positionierung zu der "spontanen Anzeigepflicht" gebeten, berichtete er gegenüber dem "Versicherungsjournal".Und fordert auch Vermittler und Kollegen auf, sich in der Sache zu positionieren.

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"Liebe Versicherer, unsere Kunden brauchen Versicherungsschutz. Die haben keine Zeit, bis die Frage spontane Anzeigepflicht in 5, 8, oder 10 Jahren vom BGH geklärt ist", schreibt Helberg. Es brauche Jahre, um Vertrauen aufzubauen - aber um es zu zerstören, reiche ein abgelehnter Antrag.

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