Versicherungsbote: In der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) sorgen unklare und unverbindliche Verträge dafür, dass sowohl Vermittler als auch Verbraucher kaum die Qualität der Tarife einschätzen und vergleichen können. Zu diesem bitteren Fazit kommt die Beratungsgesellschaft PremiumCircle anhand einer Umfrage. Wie schätzen Sie diese These ein?

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Matthias Helberg: Wenn wir die wirklichen Probleme der Berufsunfähigkeitsversicherung gelöst haben, können wir uns auch dem Thema „unbestimmter Begriffe“ widmen.

Wie meinen Sie das?

Ich meine, unser Rechtssystem ist voller unbestimmter Begriffe. Ein Beispiel: Als Makler sollen wir eine „hinreichende Zahl von auf dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen“ berücksichtigen. Wie viele das sein sollen, weiß auch 9 Jahre nach Inkrafttreten des entsprechenden Gesetzes kein Mensch. Wenn die Gesetze schon schwammig formuliert sind, wundert es nicht, dass Versicherungsbedingungen auch eher vage formuliert werden.

Wäre es denn nicht besser, die Kunden könnten exakt nachlesen, woran sie im Leistungsfall sind?

Doch, natürlich! Ich halte es nur für eine Illusion zu meinen, die Kunden würden mit einmal einen Run auf die BU ausüben, nur weil die Versicherungsbedingungen eindeutiger formuliert sind, die die meisten Versicherten sowieso nicht lesen.

Was sind Ihrer Meinung nach denn die größeren Probleme der BU?

Zum einen geht wegen der immer stärkeren Berufsgruppen-Differenzierung bis hin zu Vitality-Tarifen der Kollektiv-Gedanke mehr und mehr verloren. Der sportlich fitte Akademiker mit von Natur aus geringerem BU-Risiko bekommt seine Absicherung zu Dumpingpreisen, während (oder besser weil) Menschen mit handwerklichen und sozialen Berufen kaum noch eine bezahlbare BU-Absicherung bekommen. Der Arzt zahlt für seine BU-Absicherung 75 Euro, während die Krankenschwester, die mit ihm im OP-Saal arbeitet, für die gleiche Absicherung 225 Euro zahlen soll – bei deutlich niedrigerem Einkommen. Wenn man diese Tendenz konsequent weiter denkt, trägt irgendwann jeder exakt nur noch sein eigenes BU-Risiko. Nur - wozu braucht es dann noch Versicherungen?

Zum anderen macht die stets penibler werdende Gesundheits- und Risikoprüfung den Abschluss einer BU gerade für die ehrlichen Kunden zu einer enormen Herausforderung. In Zeiten, in denen Krankenkassen aus finanziellen Eigeninteresse dafür sorgen, dass Patienten schlimmere Diagnosen abgerechnet bekommen als korrekt, müssen wir jedem Kunden empfehlen, seine Patientenakte zu überprüfen – bei der Krankenkasse, den Ärzten, der kassenärztlichen Vereinigung. Und da die Risikoprüfung der Versicherer so uneinheitlich ist, bleibt nicht viel anderes, als die konkrete Einschätzung über Risikovoranfragen einzuholen. Was für ein Aufwand für alle Beteiligten! In der Praxis bedeutet das: Viele Interessenten geben schon auf, bevor sie überhaupt ein Antragsformular zu sehen bekommen. Diejenigen, die durchhalten und Einsicht in den Sinn dieser Vorgehensweise haben, brauchen (bei uns) inzwischen rund drei Monate und mehr von der Anfrage bis zum Abschluss. Ein Kunde sagte dazu einmal: „Das war schlimmer als meine Doktorarbeit.“

Werden nicht gerade wegen dieser Problematik immer mehr Alternativ-Produkte zur BU entwickelt und verkauft?

Sie meinen die Kannibalisierung der Berufsunfähigkeitsversicherung? Das muss man sich einmal vorstellen: Da hat die Branche einmal ein im Prinzip hochwertiges Produkt mit Riesen-Marktpotential, das selbst sogenannte Verbraucherschützer dringend empfehlen. Es kommt zu eindeutigen Fehlentwicklungen (siehe oben). Und was macht die Branche? Statt zu reparieren wird die Fehlentwicklung fortgesetzt und es werden neue, viel ungeeignetere Produkte (Grundfähigkeitsversicherung, Multifunktionsrenten etc.) kreiert, nur damit man auch der Krankenschwester noch irgendetwas verkaufen kann. Das kann nicht lange gutgehen und wir alle werden die Quittung dafür bekommen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?

Wir brauchen keine immer individueller berechnete, sondern „gerechter“ kalkulierte BU-Preise. Bildlich gesprochen kann der Arzt auch den doppelten Beitrag bezahlen, damit sich die Krankenschwester zum gleichen Beitrag wie er absichern kann. Und wir brauchen eine viel, viel einfachere Risikoprüfung.

Was nicht funktionieren wird: Wenn die Kunden bis zum nahenden Leistungsfall mit dem Abschluss warten. Vielleicht brauchen wir eine bessere Verteilung der Risiken zwischen Kunde und Versicherer? Frühzeitige Leistungsfälle möglichst vermeiden, dafür aber langfristig wirklich Versicherungsschutz bieten. Die gesetzliche Rentenversicherung kennt keine Gesundheitsfragen, dafür aber fünf Jahre Wartezeit – da könnten sich die Versicherer auch etwas für die private BU abgucken. Kurzum: Wir brauchen in der Versicherungsbranche eine „BU für alle“, eine Chance auf funktionierenden Versicherungsschutz für möglichst jeden. Schaffen wir das nicht, wird der Gesetzgeber früher oder später eingreifen. Wer wollte es darauf ankommen lassen?

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Die Fragen stellte Jenny Müller