Versicherungsbote: War die Brexit-Entscheidung ein schwerer Schlag für europäische Unternehmen?

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Ken Hsia: Die meisten europäischen Firmen konnten das Brexit-Referendum ganz gut verkraften. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Bilanzen europäischer Aktiengesellschaften so gut wie noch nie ausgesehen haben. Es gibt sogar Branchen, die auf einen Aufschwung hindeuten

Ken Hsia ist Portfoliomanager des Investec GSF European Equity Fonds des Londoner Asset Managers Investec Asset Management.

Welche sind das?

Bei Automobilbau und der Baustoffindustrie beobachten wir eine Aufwärtsentwicklung

Wie können Sie sich das erklären?

Die Entwicklung beider Industrien gilt als konjunkturelles Vorzeichen. Das Auto stellt für viele Haushalte die größte – oder nach dem Eigenheim zweitgrößte Ausgabe dar. Entwickelt sich die Konjunktur schlecht, werden solche Ausgaben häufig nach hinten verschoben. Aktuell beobachten wir das Gegenteil: In Italien stieg der Absatz an Kraftfahrzeugen im ersten Quartal 2016 um 21%, in Deutschland und Großbritannien um je 5%. Davon profitieren unter anderem auch Aktien der Zulieferindustrie, wie z.B. Michelin oder NXP, einem niederländischen Halbleiterproduzenten. Bei der Baustoffindustrie sieht es ähnlich aus. Hier haben unter anderem Gesetzesinitiativen dafür gesorgt, dass Eigenheimbesitzer umfangreiche Renovierungsmaßnahmen durchgeführt haben. Davon profitiert hat unter anderem auch HeidelbergCement.

Wie sieht die konjunkturelle Lage in Großbritannien aus?

In Großbritannien ist die Anti-EU-Stimmung noch nicht verebbt, da die neue Premierministerin die Aufgabe haben wird, die Austrittsverhandlungen gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages auszulösen. Aber wie man schon in Griechenland beobachten konnte, werden Verhandlungen hinter verschlossenen Türen meist viel nüchterner betrieben, als die Medien es glauben machen.

Bedeutet das, dass Großbritannien in eine Rezession abgleitet?

Es gibt ein Zitat von Winston Churchill: „Verschwende nie eine Krise; sie gibt uns die Gelegenheit, große Dinge zu tun“. Wenn man jetzt danach handelt, kann eine Krise trotz Brexit vermieden werden. Wenn etwas Wachstum bremst, dann ist es Unsicherheit. Schnelle und klare Entscheidungen können dem entgegenwirken. Wir beobachten beispielsweise, dass langfristige Investitionen zunächst aufgeschoben werden. Man möchte keine falsche Entscheidung treffen.

Wie behandeln Sie britische Aktien in Ihrem eigenen Fonds, dem Investec GSF European Equity Fonds?

Aktien von britischen Unternehmen, die vom abgeschwächten Binnenkonsum betroffen sind, haben wir untergewichtet, diejenigen britischen Unternehmen mit einem starken Exportanteil hingegen haben wir behalten, denn sie profitieren nun vom abgewerteten Pfund. Auch können sich Energie- und Bergbauaktien wieder lohnen, denn zuletzt war der Ölpreis wieder gestiegen. Insgesamt haben wir Großbritannien als Land in unserem Fonds um 3% untergewichtet, während Titel aus Frankreich und den Niederlanden am stärksten im Fonds vertreten sind,

Der Brexit konnte dem europäischen Aktienmarkt also keinen großen Schaden zufügen?

So ist es. Generell stellen europäische Aktien in unsicheren Zeiten eine attraktive Assetklasse dar. Die Dividendenrendite des MSCI Europe betrug zuletzt 4%. Vergleichen Sie das mit europäischen zehnjährigen Staatsanleihen, mit denen sie maximal 1,5% erzielen konnten oder zuletzt sogar eine Negativrendite hinnehmen mussten. Auch die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB), im Rahmen ihres Quantitative Easing-Programms europäische Anleihen zu kaufen, spricht eher für den Aktienmarkt, der frei von solchen Beeinflussungen ist. Wir gehen sogar von einem Anstieg der Dividendenrendite aus, wenn die Unternehmen es schaffen, weiter an ihrem Cashflow zu arbeiten und ihre Bilanzen verbessern.

Hatte der Brexit also überhaupt keine Auswirkung auf den europäischen Aktienmarkt?

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Das überraschende Brexit-Referendum führte durchaus zu einer kurzfristigen Unsicherheit. Aber diese kann relativ schnell abgebaut werden, sobald die neue britische Regierung ihre Beziehungen zur EU klärt. Und wenn dadurch europaweit eine neue Debatte über Zweck, Rolle und Ausrichtung der EU ausgelöst wird, kann das nicht nur für Großbritannien, sondern auch für alle EU-Staaten und sogar für die ganze Welt von Vorteil sein.

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