Es muss für das Münchener ifo-Institut ein Schock gewesen sein, als die schwarz-rote Koalition die Einführung eines bundesweiten Mindestlohns von 8,50 Euro beschloss – gilt doch das wirtschaftsnahe Institut hierzulande als überzeugter Verfechter von Niedriglöhnen. Mehrfach hat Institutsdirektor Hans-Werner Sinn den Niedriglohnsektor als Standortvorteil im internationalen Wettbewerb gepriesen (vgl. Focus Ausgabe 19/2013).

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Da mag auch der aktuelle Vorstoß aus dem Umkreis des ifo-Institutes kaum verwundern. In einem Aufsatz fordern die Forscher Andreas Knabe (Magdeburg), Ronnie Schöb (Berlin) und Marcel Thum (Dresden), dass der Mindestlohn zunächst nicht über 4,60 Euro pro Stunde liegen dürfe. Sonst seien allein in Ostdeutschland rund 293.000 Arbeitsplätze gefährdet – die Hälfte davon Minijobs. Es dürfte den Wissenschaftlern bewusst sein, dass von einem derart niedrigen Lohn kein Mensch leben kann.

Thum wirft Parteien und Gewerkschaften Naivität vor

Der vom Bundestag beschlossene Mindestlohn sieht eine bundesweit einheitliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Arbeitsstunde vor und soll zum 01. Januar 2015 in Kraft treten. Als „naiv“ bezeichnen die Wissenschaftler Äußerungen von Politikern und Gewerkschaftern, wonach der Mindestlohn in anderen Ländern keine Arbeitsplätze vernichtet habe. In jedem Land gebe es andere Bedingungen, die nur schwerlich miteinander vergleichbar seien.

Großbritannien hat beispielsweise 1999 einen Mindestlohn eingeführt, der anfangs nur 3,60 Pfund betrug. Schrittweise wurde er dann auf aktuell 6,31 Pfund erhöht, was umgerechnet 7,91 Euro entspricht. Ein ähnlich vorsichtiges Vorgehen wünscht sich das ifo-Institut auch in Deutschland. Sonst müssten Frisöre, Hilfsarbeiter, Wachleute und andere Niedriglöhner um ihre Jobs bangen.

Der Grund: eine Anhebung des Mindestlohns auf 8,50 Euro greife in Deutschland viel stärker in die Lohnstruktur ein als in den Vergleichsländern. So wäre in den neuen Bundesländern jeder fünfte Arbeitnehmer von der Lohnerhöhung betroffen, weil er aktuell deutlich weniger als 8,50 Euro verdient. Im Westen betrifft die Anhebung immerhin noch 12,5 Prozent der Beschäftigten.

Doch statt tatsächlich höhere Löhne zu erhalten, müssten diese Menschen damit rechnen, auf die Straße gesetzt zu werden. Nach Berechnungen der Wissenschaftler dürfte der Mindestlohn in Ostdeutschland maximal 4,60 Euro betragen, damit keine größeren Jobverluste zu befürchten sind, in Westdeutschland 6,50 Euro. Als Grundlage für diese Berechnung dient der sogenannte Kaitz-Index, der sich u.a. an der Höhe der durchschnittlichen Stundenlöhne orientiert (im Osten 14,10 Euro brutto pro Stunde).

Plädoyer für dauerhaft niedrige Löhne?

Die Argumentation der Forscher verblüfft: Weil die Löhne in Deutschland niedrig seien, sollen sie auch künftig niedrig bleiben. Armutslöhne scheinen als volkswirtschaftlich wünschenswert - eine These, die auch ethisch zu Widerspruch herausfordert. Dabei hat die Bundesregierung bereits jetzt zahlreiche Ausnahmeregelungen gestattet, um Jobs nicht zu gefährden.

So sind ab 2015 mehrere Branchen von der Mindestlohn-Regelung ausgenommen. Pflegekräfte, die bundesweit dringend gebraucht werden, erhalten zunächst acht Euro pro Stunde, Leiharbeiter in Ostdeutschland 8,20 Euro. Ebenfalls ist es den Bäckern und Taxifahrern gestattet, branchenspezifische Tariflöhne unter 8,50 Euro auszuhandeln. Die Landwirte peilen mit der Gewerkschaft IG Bau einen Lohn um 7,20 Euro an.

Mindestlohn oder nicht? Eine kontroverse Debatte

Die Einführung eines Mindestlohns wird von Wirtschaftsexperten kontrovers diskutiert, wobei die Debatte häufig von weltanschaulichen Annahmen geprägt ist. So kam etwa die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie zu dem Ergebnis, dass keine großen Jobverluste durch eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro zu befürchten seien.

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Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales evaluierten bereits im Jahr 2011 sechs Wirtschaftsforschungsinstitute die Auswirkungen in jenen Branchen, die bereits einen Mindestlohn eingeführt haben, etwa im Baugewerbe (8 Euro pro Stunde). Hier legen die Ergebnisse nahe, dass Jobverluste weitestgehend ausgeblieben sind. Negative Beschäftigungseffekte wurden jedoch ausgerechnet für Fachkräfte in Ostdeutschland beobachtet.

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