Es ist ein Kriminalfall, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Am 05. Dezember 2012 wird Ulrich Rüther, Vorstandsvorsitzender der Westfälischen Provinzial-Versicherung, in ein Krankenhaus eingeliefert. In seiner Brust steckt ein Schraubenzieher. Die Verletzung habe ihm ein vermummter Mann auf dem Weg zu einer Betriebsversammlung zugefügt, gibt Rüther an, er sei in der Tiefgarage der Hauptverwaltung attackiert worden. Mehrfach habe der Übeltäter auf ihn eingestochen. Der Konzernsprecher bestätigt die Geschichte. Das Dumme ist nur: Es gab keine Attacke eines fremden Mannes. Eine Woche später muss Rüther der Kriminalpolizei gestehen, dass er sich die Verletzungen selbst zugefügt hatte.

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Um seinen Job bei der Provinzial muss der Vorstandschef jedoch nicht bangen. Trotz der erfundenen Attacke habe der Aufsichtsrat eine weitere Zusammenarbeit mit Ulrich Rüther bestätigt, teilte das Unternehmen am Montag in Münster mit. Sie sprechen damit einem Mann das Vertrauen aus, der in der Branche als Hoffnungsträger gilt. Die anstehenden Überlegungen zur Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Versicherungssektors sollten mit einem anerkannten Fachmann vorangetrieben werden, begründet der Aufsichtsrat seine Entscheidung. Rüther ist seit Januar 2009 Vorstandschef der Provinzial Nordwest Holding. Zuvor war der Mangager für den Gerling-Konzern und die Ergo-Versicherungsgruppe aktiv.

Verkaufsgespräche mit der Allianz

Die erfundene Schraubenzieher-Attacke war der traurige Höhepunkt eines Übernahmepokers, bei dem es anfangs auf Seiten der Provinzial Nordwest nur Verlierer zu geben schien. Am 30. November 2012 hatte die Financial Times Deutschland berichtet, dass die Allianz Deutschland den Eigentümern der Provinzial ein Angebot für die Übernahme der Versicherungsgruppe gemacht habe. Als Kaufpreis wurden 2,25 Milliarden Euro genannt. Auch Ulrich Rüther gab nach der erfundenen Attacke an, dass er sich die Verletzung aufgrund der psychischen Belastungen zugefügt habe, die aus den Turbulenzen rund um die Verkaufsgerüchte resultierten. Rüther selbst gilt als entschiedener Gegner eines Verkaufs. Er war in die Verkaufspläne anscheinend zunächst nicht eingeweiht.

Und tatsächlich hätte der Verkauf der Provinzial Nordwest ein Paradebeispiel dafür werden können, was passiert, wenn regionale Entscheidungsträger zu schnell öffentliches Eigentum verhökern. Denn für eine Privatisierung des Unternehmens gibt es eigentlich keinen Grund. Wirtschaftlich steht die Provinzial Nordwest gut da. Sie kann auf der Habenseite rund 3 Millionen Kunden verbuchen sowie jährliche Beitragseinnahmen von über 3 Milliarden Euro. Hinzu kommt ein breites Filialnetz und eine starke regionale Verankerung, die es dem Versicherer erlaubt, Kunden über die Sparkassenfilialen direkt vor Ort anzusprechen. Weitere 700 eigene Filialen betreibt die Provinzial in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Ideale Voraussetzungen also, um langfristig erfolgreich am Markt zu bestehen. Der wirtschaftliche Erfolg ist auch ein Argument, welches Ulrich Rüther gegen Verkaufsbefürworter in Position bringt. „Wir sind ein kerngesundes Unternehmen mit einer nachhaltig positiven Prognose – auch was den Unternehmenswert angeht“, sagte Rüther den Westfälischen Nachrichten im Dezember 2012.

Warum also sollte die Provinzial überhaupt verkauft werden? Die treibende Kraft hinter den Verkaufsplänen war nach FTD-Informationen Rolf Gerlach, wichtiger Provinzial-Eigner und Präsident des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe. Gerlach befürchtete, dass die Probleme der Lebensversicherer die Sparkassen in einen ähnlichen Verluststrudel reißen könnten, wie seinerzeit der Zusammenbruch des Hypothekenmarktes die Landesbanken beinahe kollabieren ließ. Es kam zu mehreren Treffen mit Allianz-Vorstand Michael Dieckmann, an denen auch die zwei weitere Provinzial-Eigner teilnahmen: Wolfgang Kirsch, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), sowie Reinhard Boll, der dem Sparkassenverband Schleswig-Holstein vorsteht. Die Treffen fanden heimlich in München und Münster statt, Vertrieb und Belegschaft waren nicht eingeweiht. Gerlachs Sparkassen und der LWL halten je 40 Prozent an der Provinzial Nordwest, die Sparkassen in Schleswig-Holstein 18 Prozent und im Osten zwei Prozent.

Doch Gerlachs Bedenken sind zumindest diskussionswürdig. Ganze 12 Prozent am Unternehmenswert der Provinzial Nordwest macht derzeit das Lebensversicherungsgeschäft aus. Ein weiteres Argument spricht gegen den Verkauf. Wäre die Provinzial abgegeben worden, hätte dies eine Kettenreaktion auslösen können. Andere Sparkassen-Versicherer wie die finanziell schlechter gestellte Provinzial Rheinland hätten ebenfalls aufgeben müssen und wären an einen privaten Anbieter gefallen. Folglich wertet der Branchendienst map report das Kaufangebot der Allianz als „Mordanschlag auf den gesamten Sparkassensektor“.

Angeblich stehen 6.000 Jobs auf dem Spiel

Dass ein Verkauf an die Allianz nun vorerst kein Thema mehr ist, hat ebenfalls mit der regionalen Verankerung der Provinzial Nordwest zu tun. Innerhalb kürzester Zeit bildete sich eine breite Protestfront, an der viele verschiedene Interessengruppen partizipierten. Mitarbeiter und Vertrieb, regionale Politiker und Gewerkschafter – sie alle verliehen ihrem Unmut über den drohenden Verkauf Ausdruck und forderten, den Versicherer zu erhalten.

So warnte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, mit dem Verkauf der Provinzial drohe der Verlust von 6.000 Arbeitsplätzen. Rund 3.000 Mitarbeiter sind aktuell im Innendienst des Versicherers beschäftigt, ebenso viele im Außendienst – sie alle müssten langfristig um ihren Job bangen, wenn das Unternehmen tatsächlich an die Allianz verkauft werde. Denn es sei unwahrscheinlich, dass die Allianz doppelte Strukturen aufrecht erhalte, eine Entlassung der jetzigen Mitarbeiter also wahrscheinlich. In Kiel zogen nach einer Betriebsversammlung im Dezember fast 1.000 Mitarbeiter der Provinzial durch die Innenstadt und machten ihrem Ärger Luft. Regionale Politiker positionierten sich ebenfalls gegen eine Privatisierung. „Mein Ziel ist es, einen Verkauf der Provinzial zu vermeiden und die Arbeitsplätze zu erhalten“, schrieb etwa Thomas Hunsteger-Petermann, Oberbürgermeister der kreisfreien Stadt Hamm, der selbst Mitglied des Verbandsverwaltungsrates des Sparkassenverbands Westfalen-Lippe ist und spät informiert wurde.

Doch ein weiterer Grund trägt dazu bei, dass vielen Menschen in den betroffenen Regionen an einem Erhalt der Provinzial gelegen ist. Der Versicherer ist regional sehr engagiert, er sponsert Vereine und macht sich für den Brandschutz stark. In den letzten Jahren habe die Provinzial alle Feuerwehren in Westfalen mit Hochstrahlrohren, Wärmebildkameras und mobilen Rauchverschlüssen ausgestattet, berichtet das Handelsblatt. Auch an der Organisation von Stadtfesten sei der Versicherer beteiligt und vergibt günstige Kredite an die Feuerwehrhäuser. „Ohne diese Förderungen, die dem Gemeinwohl zugutekommt, würde in vielen Fällen die Arbeit in den Feuerwehren leiden und damit für die Städte und Gemeinden als Träger der Feuerwehren eine nicht unerhebliche zusätzliche finanzielle Belastung bedeuten“, sagt Hans-Peter Kröger, Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV), gegenüber dem Handelsblatt.

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Den massiven Protesten ist es zu verdanken, dass im Verkaufspoker nun zumindest etwas Zeit gewonnen wurde. Bis Ende März wollen die Eigner vorerst keine Verkaufsgespräche mit privaten Versicherern führen. Experten halten stattdessen eine Fusion mit der Provinzial Rheinland für möglich. Allerdings könnten sich die Fusionsgespräche als schwierig gestalten, denn trotz des gleichen Namens sich die Provinzial Nordwest und die Provinzial Rheinland zwei verschiedene Unternehmen mit unterschiedlichen Unternehmenskulturen. Auf Seiten der Provinzial Nordwest wird der bestätigte Vorstand Ulrich Rüther die Verhandlungen führen. Er wird in Düsseldorf auf einen Mann treffen, der bisher 31 Jahre für die Allianz tätig war – Zum neuen Vorstandsvorsitzenden der Provinzial Rheinland wurde am 01. Januar 2013 Dr. Walter Tesarczyk berufen.

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