Jeder zweite geht bereits jetzt mit Abschlägen in Rente

Die Rente mit 67 dürfte ähnliche Effekte haben wie die bisherigen Reformen, die auf eine Verlängerung des Arbeitsleben zielten: Es erhöht sich zwar die Erwerbsbeteiligung Älterer, doch mehr Über-60-Jährige müssen die Zeit bis zur Rente mit prekären Jobs und in Arbeitslosigkeit überbrücken.

Das hat längst deutliche Auswirkungen auf die Höhe der Altersversorgung: Gegenwärtig geht rund die Hälfte der Altersrentnerinnen und -rentner vorzeitig und mit Abschlägen in den Ruhestand. Lediglich Männer, die aus stabiler Beschäftigung in Rente gehen, schaffen es mehrheitlich, ohne Abschläge durchzukommen - und viele von ihnen haben die Altersteilzeit in Anspruch genommen. In allen anderen Gruppen - Frauen sowie Männer in gelegentlicher oder längerer Arbeitslosigkeit - müssen 60 bis 80 Prozent der Neurentner Abschläge hinnehmen.
Zu diesem Ergebnis kommen Prof. Dr. Matthias Knuth und Dr. Martin Brussig vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen, die das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt "Altersübergangreport" leiten. Ihr Überblick über den Forschungsstand ist in der aktuellen Ausgabe der WSI Mitteilungen erschienen.

Im kommenden Jahr beginnt die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters von 65 auf 67. Die Umstellung wird sich bis 2031 hinziehen, dann soll die Rente mit 67 eingeführt sein.
Bis dahin wird sich auch zeigen, ob die Erwerbstätigen künftig tatsächlich so lange arbeiten werden. Die Bundesregierung jedenfalls geht in ihrem Bericht zur Lage der Älteren am Arbeitsmarkt davon aus. Auch Brussig und Knuth halten einen weiteren Anstieg der Erwerbsbeteiligung Älterer für recht wahrscheinlich. Die Forscher verweisen jedoch auch auf die Probleme, die mit einer Anhebung des Rentenalters verbunden sind - und die der Regierungsbericht weitgehend ausklammere. Wenn sich die Beschäftigungschancen für Ältere im Vergleich zu heute nicht deutlich verbessern und sich die körperlichen und seelischen Arbeitsbelastungen über das ganze Erwerbsleben hinweg nicht reduzierten, dann habe eine Erhöhung des Rentenalters auch etliche Nachteile, warnen die Wissenschaftler.

Brussigs und Knuths Analyse macht deutlich: Die Rente mit 67 ist keine Wende in der staatlichen Alterssicherung. Die Forscher verstehen die Erhöhung der gesetzlichen Altersgrenze vielmehr als eine "graduelle Fortsetzung der bisherigen Reformen".
Schon seit 1997 strebe die Rentenpolitik an, die faktische Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben und die Menschen zu einem längeren Arbeitsleben zu bewegen. So wurde das Zugangsalter für eine abschlagsfreie Altersrente von 60 auf 65 erhöht. Außerdem verschiebt sich während der Jahre 2006 bis 2012 das frühestmögliche Eintrittsalter zur Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, von 60 auf 63. Das Gleiche gilt auch für die bald auslaufende Altersrente nach Altersteilzeit. Diese drei Altersgrenzenanhebungen gingen sogar schneller vonstatten als der geplante Übergang zur Rente mit 67. "Die zurückliegenden Jahre waren stärker reformgeprägt als es für die Zukunft zu erwarten ist", schreiben die Forscher. Darum liegen schon jetzt Erfahrungswerte über ein späteres Rentenalter vor.

Die Erwerbstätigen von heute stellen sich bereits auf ein langes Arbeitsleben ein, berichten die Wissenschaftler. Auch beim tatsächlichen Rentenzugang macht sich das bemerkbar. Analysen des IAQ belegen: Die Menschen melden ihren Ruhestand zusehends später an. Die Bundesregierung berichtet gar, dass das häufigste Lebensalter beim Beginn einer Altersrente 2000 noch bei 60 Jahren lag. Acht Jahre später war es 65 Jahre. Brussig und Knuth relativieren diese Erfolgsmeldung jedoch: Sie beruht auch darauf, dass gegenwärtig viele dieser Rentner aus der passiven Phase der Altersteilzeit in den Ruhestand wechseln - und somit nicht wirklich aus einer Erwerbstätigkeit. Und darum müsse sich erst noch zeigen, schreiben die Wissenschaftler, ob der tatsächliche Erwerbsaustritt auch nach dem Auslaufen der staatlich geförderten Altersteilzeit weiterhin aufgeschoben werden kann.

Angesichts der höheren Erwerbstätigenquote und des gestiegenen durchschnittlichen Renten-Zugangsalters kommt der Bericht der Bundesregierung zu einem positiven Zwischenfazit der Rentenreformen. Der Regierungsbericht blende jedoch mehrere wichtige Entwicklungen aus, kritisieren Brussig und Knuth: Nicht nur die schlechte Qualität vieler Beschäftigungsverhältnisse im letzten Jahrzehnt des Arbeitslebens, sondern auch die langfristigen Folgen von harten Arbeitsbedingungen. Fehlende Leistungsfähigkeit im Alter ist häufig durch Gesundheitsprobleme aufgrund früherer Arbeitsbelastungen bedingt. Das führe oftmals "zur vorzeitigen Berufsaufgabe und dem Abdrängen in randständige Jobs oder Arbeitslosigkeit", so die Forscher. Den Betroffenen ist das bewusst: Wer unter körperlichen und seelischen Belastungen arbeitet, macht sich nach Erhebungen des Inifes-Instituts oft große Sorgen um seine Beschäftigungsfähigkeit. 54 Prozent der Beschäftigten mit einer körperlich anstrengenden Arbeit zweifeln daran, bis zum Rentenalter im Beruf durchzuhalten. Von den Beschäftigten mit psychischem Druck bei der Arbeit sind es 47 Prozent.

Durch die Rentenreformen haben sich der Charakter und die Bedeutung von Arbeitslosigkeit jenseits der 60 stark gewandelt. In den 1990er-Jahren war späte Erwerbslosigkeit noch "der Ausgangspunkt zur materiell abgesicherten Frühverrentung", so Brussig und Knuth.
Seit dem Ende der Frühverrentungspolitik ist sie hingegen "zunehmend Bestandteil eines prekären Altersübergangs" geworden. Jeder dritte Neurentner des Jahres 2007 hat einen problematischen Ausstieg aus dem Arbeitsleben hinter sich mit Langzeitarbeitslosigkeit von mindestens drei Jahren oder einen um zwei Jahre vorzeitigen Rentenbezug, berichten die Wissenschaftler. Auch Teilzeit und Minijobs kommen bei den Über-55-Jährigen häufig vor.

Diese Altersklasse leidet auch darunter, dass die seit den Hartz-Gesetzen praktizierte Arbeitsmarktpolitik an ihr vorbei geht. Ältere würden wenig bis gar nicht gefördert, bemängeln Brussig und Knuth. Sie werden ohnehin bald die Arbeitslosenstatistik verlassen: Wer 63 ist und Hartz IV bezieht, muss möglichst rasch seine Rente anmelden. Auch dies führe dazu, dass Rentenabschläge inzwischen weit verbreitet sind und das Risiko von Altersarmut wächst.