Pflegeversicherung am Abgrund – Wenn Solidarität zur Renditemaschine wird
Steigende Eigenanteile, unterbezahlte Pflegekräfte und renditegetriebene Betreiber: Das System der Pflegeversicherung zeigt immer größere Brüche. In seinem Gastbeitrag analysiert Alwin W. Gerlach, warum die Politik zu lange zögert, die Versicherungswirtschaft Chancen verpasst hat – und warum eine grundlegende Neuordnung unvermeidlich ist.

- Pflegeversicherung am Abgrund – Wenn Solidarität zur Renditemaschine wird
- Pflege als Klassenfrage
Seit Jahren beschäftigt mich ein Thema, das für viele Menschen erst dann zur bitteren Realität wird, wenn es sie selbst oder ihre Familien trifft: die Pflegeversicherung. Geprägt durch eigene Erfahrungen im familiären Umfeld und durch genaue Beobachtungen aus der Nähe, habe ich miterlebt, wie sich ein System, das einst als solidarischer Schutz gedacht war, in eine Struktur verwandelt hat, die Belastung, Ungerechtigkeit und Verunsicherung erzeugt. Die Pflegeversicherung sollte Sicherheit geben – heute steht sie für wachsende Kosten, zweifelhafte Strukturen und ein soziales Versprechen, das zunehmend brüchig wird.
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Ein System, das aus der Balance geraten ist
Die Pflegeversicherung wird fast ausschließlich über Beiträge der Arbeitnehmer finanziert. Was als gemeinschaftliches Modell begann, ist längst zu einer zweiten Steuer auf Arbeit geworden. Kapital- und Vermögenseinkommen bleiben weitgehend außen vor. Der Beitragssatz hat sich seit der Einführung 1995 mehr als verdreifacht – eine Entwicklung, die viele Beschäftigte als schleichende Enteignung empfinden.
Doch die steigenden Beiträge sind nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen explodieren die Eigenanteile: Im Durchschnitt zahlen Pflegeheimbewohner heute rund 3.000 Euro pro Monat. Für die meisten Rentner ist das unerschwinglich. Familien müssen Ersparnisse aufbrauchen, Immobilien verkaufen oder staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Was als solidarischer Schutz gedacht war, drängt Menschen in die Abhängigkeit.
Wenn Pflege zur Renditemaschine wird
Besonders problematisch ist, dass die Kosten nicht automatisch in bessere Pflege fließen. Der wachsende Anteil privater Träger, darunter internationale Investoren und Konzerne, hat die Pflege zu einem lukrativen Markt gemacht. Heime werden betrieben wie Unternehmen, Bewohner zu Kostenstellen. Rendite wird nicht durch Innovation, sondern durch Sparmaßnahmen erwirtschaftet: weniger Personal, höhere Investitionskosten, Mieten an verbundene Immobiliengesellschaften. Aus Fürsorge ist Geschäft geworden.
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Pflegeversicherung am Abgrund – Wenn Solidarität zur Renditemaschine wird
Pflegekräfte am Limit
Wer den Alltag in Pflegeeinrichtungen kennt, weiß: Die Pflegekräfte tragen das System – und sind selbst die größten Verlierer. Unterbezahlt, überlastet und durch Bürokratie erdrückt, halten sie eine Versorgung aufrecht, die längst an der Grenze des Machbaren ist. Während der Pandemie beklatscht, danach vergessen, kämpfen sie mit Burnout, Fachkräftemangel und fehlender gesellschaftlicher Anerkennung. Ein Beruf, der Würde sichern soll, verschleißt die Würde seiner eigenen Träger.
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Missbrauch und Kontrolle – ein System voller Schlupflöcher
Auch das Instrument der Pflegegrade, eingeführt, um Bedarfe gerecht zu erfassen, lädt zur Manipulation ein. Einrichtungen wissen, wie sie Dokumentationen gestalten müssen, um höhere Einstufungen zu erreichen. Angehörige nutzen das System ebenfalls, wenn Pflegegeld beantragt wird, das dann nicht für Pflege, sondern zur Aufstockung der Rente oder für Konsumzwecke verwendet wird. Die Kontrollinstanzen – Heimaufsichten, MDK, Pflegekassen – wirken wie zahnlose Tiger. Prüfungen sind oft angekündigt, Berichte unverständlich, Kosten intransparent. Das System öffnet Schlupflöcher und lädt zum Missbrauch ein.
Pflege als Klassenfrage
Wer reich ist, kauft sich bessere Pflege. Wer mittlere Einkommen hat, sieht sein Vermögen in Heimplätzen verschwinden. Wer arm ist, fällt ins Netz der Sozialhilfe. Frauen tragen die Hauptlast häuslicher Pflege und sind im Alter überproportional betroffen. Auch der Wohnort entscheidet: In Städten explodieren die Kosten, auf dem Land fehlen Heimplätze. Pflege, einst als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität gedacht, ist längst zur Klassenfrage geworden.
Politisches Dilemma und verpasste Chancen
Die Politik reagiert mit Flickwerk. Pflegestärkungsgesetze, Zuschüsse, kleine Korrekturen – doch an die Wurzeln wagt sich niemand. Lobbyismus der Betreiber, föderale Zersplitterung und parteipolitische Grabenkämpfe blockieren echte Reformen. Mutige Entscheidungen, wie die Einbeziehung von Kapital in die Finanzierung oder die Deckelung von Eigenanteilen, werden systematisch vermieden.
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In diesem Vakuum hätte die private Versicherungswirtschaft eine historische Chance gehabt. Sie hätte Druck machen können, intelligente Produkte entwickeln können, Eigenanteile absichern und die Politik zu Reformen zwingen können. Doch sie hat diese Chance verschlafen. Statt zukunftsfähiger Konzepte bietet sie Zusatzversicherungen an, die teuer, kompliziert und unattraktiv sind. Sie bleibt im Schatten, anstatt Gestalter zu sein – und verschenkt nicht nur ein Geschäftsfeld, sondern auch Glaubwürdigkeit.
Ausblick – Es geht um Würde
Die Pflegeversicherung ist reformpflichtig, nicht reformbedürftig. Ohne eine grundlegende Neuordnung – Finanzierung aus breiter Basis, Deckelung der Eigenanteile, Begrenzung von Renditen, Stärkung der Pflegekräfte und echte Kontrolle – wird das System kollabieren. Politik und Gesellschaft tragen Verantwortung, aber auch die private Versicherungswirtschaft. Wer weiterhin nur zuschaut, riskiert nicht nur die eigene Legitimität, sondern auch das Vertrauen in eine der zentralen Errungenschaften des Sozialstaats.
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Pflege ist kein Markt wie jeder andere. Sie ist die Frage, wie wir mit den Schwächsten umgehen. Heute zeigt dieses System mehr Brüche als Halt. Wenn wir nicht handeln, droht es endgültig zu zerbrechen. Politik und Versicherungswirtschaft stehen gleichermaßen in der Pflicht – und sie dürfen sich nicht länger wegducken.
- Pflegeversicherung am Abgrund – Wenn Solidarität zur Renditemaschine wird
- Pflege als Klassenfrage