In einem aktuellen Urteil hat das Oberlandesgericht Hamm einem Kunden einer Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) über 60.000 Euro rückwirkende Rente zugesprochen und gleichzeitig deutlich gemacht, dass Versicherer sich bei Anfechtungen nicht auf schwammige Formulierungen oder späte Argumente verlassen dürfen (Az: 20 U 33/21).

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Im betroffenen Fall waren einem Mann im Antrag zum Abschluss einer BU-Versicherung unter anderem zwei Gesundheitsfragen gestellt worden, die er jeweils mit „nein“ beantwortete:

  • Frage B4.2: „Wurden Sie in den letzten 5 Jahren untersucht, beraten oder behandelt hinsichtlich Ihrer Atmungsorgane (z. B. wiederholte oder chronische Bronchitis, Asthma)?“
  • Frage B4.9: „Wurden Sie in den letzten 5 Jahren behandelt wegen Ihrer Wirbelsäule, Sehnen, Muskeln oder Knochen (z. B. Rückenerkrankungen)?“

Nachdem der Kläger im Frühjahr 2014 Leistungen aus seiner BU-Versicherung forderte , erklärte der Versicherer den Rücktritt vom Vertrag, dem später eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung folgte. Der Versicherer begründete dies mit falschen Angaben im Antragsformular, insbesondere bezüglich:

  • Vorerkrankungen und Behandlungen: Der Kläger habe 2006 eine Skoliose und degenerative Veränderungen der Brustwirbelsäule verschwiegen.
  • Frühere Versicherungsanträge: Der Kläger habe andere, abgelehnte BU-Anträge bei weiteren Versicherern nicht angegeben.

Das Landgericht Detmold, die Vorinstanz, wies die Klage des Versicherten ab. Es sah die Berufsunfähigkeit nicht als erwiesen an, da der Kläger seine selbstständige Tätigkeit bis zuletzt ausüben konnte und diese Tätigkeit für die Beurteilung herangezogen werden müsse. Die später begonnene Tätigkeit in der Fleischproduktion sei für die Beurteilung nicht "prägend" gewesen, so das Landgericht.

Das OLG Hamm hob das erstinstanzliche Urteil teilweise auf und gab der Berufung des Klägers teilweise statt. Zunächst stellten die Richter fest, dass die Angaben des Klägers zu Vorerkrankungen nicht objektiv falsch waren. Die im Arztbericht vermerkten Beschwerden zur Wirbelsäule waren demnach ein Zufallsbefund bei einer Untersuchung wegen Bronchitis. Eine einmalige Bronchitis musste der Kläger nicht angeben, da im Antragsformular explizit nach "wiederholter oder chronischer Bronchitis" gefragt wurde. Auch die Frage nach einem Schwerbehindertenausweis hatte der Kläger korrekt verneint, da ein solcher erst ab einem Grad der Behinderung von 50 ausgestellt wird, während bei ihm ein Grad von 30 vorlag.

Allerdings befand das OLG, dass der Kläger objektiv falsche Angaben zu den früheren BU-Anträgen gemacht hatte. Er hatte im Antrag zwar einen widerrufenen Vertrag angegeben, die weiteren Anträge bei weiteren Versicherern jedoch verschwiegen.

Dennoch scheiterte die Anfechtung des Versicherers aus formellen Gründen. Das Gericht stellte klar, dass der Anfechtungsgrund in der Anfechtungserklärung erkennbar sein muss. Im Anfechtungsschreiben des Versicherers wurde jedoch nur auf die "Gesundheitsstörungen" und "ärztlichen Behandlungen" Bezug genommen. Die verschwiegenen Versicherungsanträge wurden als Begründung für die Anfechtung nicht genannt. Diese Information wurde erst in der Klageerwiderung angeführt, zu einem Zeitpunkt, als die Anfechtungsfrist längst verstrichen war. Denn laut Gesetz (§ 124 BGB) muss eine Anfechtung innerhalb eines Jahres erfolgen und zwar mit konkreter Begründung. Ein allgemeiner Hinweis auf alte Arztberichte oder das „Nachschieben“ von Gründen im Prozess genügt nicht. Rücktritt und Anfechtung müssten frühzeitig und nachvollziehbar erklärt werden, unterstrichen die Richter. Aus ähnlichen Gründen wurde auch der Rücktritt vom Vertrag als unwirksam beurteilt.

Die Anerkennung der Berufsunfähigkeit untermauerten die Richter mit zwei Gutachten. Besonders wichtig für die Entscheidung war die Frage, welche Tätigkeit als die "zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte" gilt. Die Vorinstanz hatte die selbstständige Tätigkeit als Imbissbetreiber als maßgeblich angesehen. Das OLG hingegen argumentierte, dass die Rückenbeschwerden ein wesentlicher Grund für die Aufgabe der Selbstständigkeit waren. Das Gericht hatte keinen Zweifel daran, dass die zunehmenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihn zur Aufgabe seiner Selbstständigkeit veranlassten.

Obwohl die Berufsunfähigkeit anerkannt wurde, endete die Leistungspflicht des Versicherers vorzeitig. Gemäß den Versicherungsbedingungen konnte der Versicherer den Kläger auf eine andere, seiner Ausbildung, seinen Fähigkeiten und seiner bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit "verweisen", sofern diese konkret ausgeübt wird.

Das OLG stellte fest, dass die Beklagte den Kläger im September 2020 wirksam auf seine neue Tätigkeit als Verwaltungswirt verwiesen hatte. Diese Tätigkeit sei der bisherigen Lebensstellung des Klägers angemessen, da er durch die Umschulung eine qualifiziertere Position als zuvor in ungelernten Tätigkeiten erlangte. Auch das Einkommen in der neuen Tätigkeit sei mit dem der Selbstständigkeit vergleichbar, und das gesellschaftliche Ansehen sei nicht geringer. Einhergehend mit der Verweisung, endete die Leistungspflicht des Versicherers mit dem Ablauf des Monats Dezember 2020.

Das OLG Hamm verurteilte den Versicherer zur Zahlung von 60.374,28 Euro an den Kläger. Dieser Betrag umfasst die monatliche Rente von 1.500 Euro von Dezember 2013 bis einschließlich Dezember 2020 , sowie die Erstattung von zu Unrecht gezahlten Beiträgen. Die Klage des Klägers auf Leistungen über den Dezember 2020 hinaus wurde abgewiesen.

Das Urteil unterstreicht die Bedeutung einer lückenlosen und korrekten Anfechtungsbegründung durch Versicherer und klärt, dass auch eine chronische Schmerzstörung zu einer Berufsunfähigkeit führen kann. Gleichzeitig zeigt es die Relevanz der sogenannten „Verweisungsklausel“, die für Versicherte eine vorzeitige Beendigung der Rentenzahlung bedeuten kann, wenn eine vergleichbare neue Tätigkeit gefunden wird.

„Das Urteil ist ein starkes Signal für Versicherungsnehmer“, so Rechtsanwalt Tobias Strübing. „Wer Gesundheitsfragen klar und im Wortlaut korrekt beantwortet, muss keine spätere nachträgliche Interpretation durch den Versicherer befürchten.“ Die Entscheidung zeigt außerdem: Rücktritt und Anfechtung sind nur dann wirksam, wenn sie gut begründet und innerhalb der gesetzlichen Fristen nachvollziehbar erklärt werden.