Nachhaltigkeit ist längst ein zentrales Thema für die Versicherungsbranche. Unternehmen definieren ESG-Ziele, entwickeln grüne Produktstrategien und kommunizieren ihre Verantwortung. Doch ausgerechnet dort, wo nachhaltige Entscheidungen konkret vorbereitet werden – im Beratungsgespräch –, wird das Thema häufig vernachlässigt. Der zweite Teil unserer Studienreihe „Policen für den Planeten“, erstellt mit der Universität St. Gallen, untersucht, wie Versicherungsmakler Nachhaltigkeit in der Praxis behandeln. Die Ergebnisse sind deutlich – und ernüchternd.

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Nachhaltigkeit im Gespräch? In vier von fünf Fällen kein Thema

Die Basis der Untersuchung bilden 48 Mystery-Shopping-Beratungen in Deutschland und der Schweiz. In nur zehn dieser Gespräche wurde Nachhaltigkeit aktiv angesprochen. In sieben Fällen geschah dies lediglich auf Nachfrage der Testkunden. In den verbleibenden 31 Gesprächen spielte Nachhaltigkeit keinerlei Rolle. Der Anteil an Gesprächen, in denen Nachhaltigkeit von sich aus thematisiert wurde, liegt bei unter einem Viertel – trotz wachsender gesellschaftlicher Relevanz und klarer regulatorischer Rahmenbedingungen.

Philipp Spreer, Managing Partner bei elaboratumelaboratumDass das Thema so selten zur Sprache kommt, liegt nicht am mangelnden Interesse der Kunden. Bereits im ersten Teil der Studienreihe zeigte sich, dass rund ein Viertel der Versicherungskunden ein hohes Nachhaltigkeitsinteresse hat. Besonders ausgeprägt ist dieses Interesse in bestimmten Altersgruppen, etwa bei Menschen zwischen 30 und 45 Jahren, sofern nachhaltige Versicherungsprodukte klar als solche erkennbar sind.

Pflicht zur Nachfrage – kaum konsequent umgesetzt

Seit August 2022 verpflichtet die Insurance Distribution Directive (IDD) Vermittler, bei Versicherungsanlageprodukten die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden zu erfragen. Doch nur in acht von 18 Gesprächen zu fondsgebundenen Rentenversicherungen wurde diese Pflichtfrage gestellt – das entspricht einer Umsetzungsquote von nur 44 Prozent. In zwei Dritteln der Fälle unterblieb die Abfrage vollständig oder wurde lediglich als formaler Punkt auf dem Fragebogen abgehakt.

Noch gravierender ist das Ergebnis bei den 30 untersuchten Beratungen zu Sach- und Personenversicherungen: In keinem einzigen Gespräch wurde dort nach Nachhaltigkeitspräferenzen gefragt – obwohl auch in diesen Sparten grüne Produktalternativen existieren. Zwar besteht hier, anders als bei Versicherungsanlageprodukten, keine regulatorische Verpflichtung zur Abfrage, doch gerade deshalb wäre eine freiwillige Thematisierung im Gespräch umso bedeutender. Denn auch in diesen Bereichen bleibt der Markt bislang blind für die Bedürfnisse einer wachsenden Zielgruppe.

Wechselseitiges Zögern verhindert Fortschritt

Es zeigt sich, dass die mangelnde Thematisierung von Nachhaltigkeit nicht nur auf fehlende Nachfrage zurückzuführen ist, sondern oft auf Unsicherheit und fehlende Orientierung der Vermittler. Viele Vermittler berichteten von mangelnder Klarheit darüber, welche Produkte tatsächlich als nachhaltig gelten und häufig fehlten ihnen auch Informationen über regulatorische Anforderungen oder ESG-Merkmale der Produkte. Diese Unsicherheit führt dazu, dass Nachhaltigkeit nur angesprochen wird, wenn Kunden gezielt danach fragen, was jedoch selten geschieht.

Gleichzeitig erwarten Produktverantwortliche klare Impulse aus dem Vertrieb, bevor neue Angebote entwickelt werden. Es entsteht ein zirkuläres Blockademuster: Kein Angebot ohne Nachfrage – keine Nachfrage ohne Angebot.

Nachhaltigkeitsorientierte Kunden: anspruchsvoll, loyal, übersehen

Gerade in diesem Spannungsfeld zwischen fehlendem Angebot und zurückhaltender Nachfrage wird deutlich, wie viel Potenzial in der nachhaltig orientierten Kundengruppe bislang ungenutzt bleibt. Diese Zielgruppe ist nicht nur groß, sondern auch besonders interessant für Versicherer. Frauen und Menschen mit akademischem Hintergrund sind in dieser Gruppe überdurchschnittlich stark vertreten. Sie besitzen im Schnitt mehr Versicherungsverträge als der Durchschnitt der Versicherungskunden und gelten als langfristig orientiert sowie besonders loyal. Anhand der Ergebnisse aus dem ersten Teil der Studie wurde außerdem deutlich, dass Kunden einen großen Wert auf Authentizität legen. Ein Großteil äußert explizites Misstrauen gegenüber Versicherern, die Nachhaltigkeit nur als Marketingthema nutzen. Zudem fühlen sich viele Kunden in der Praxis nicht abgeholt. Nur wenige gaben in unserer Befragung an, jemals aktiv auf nachhaltige Optionen angesprochen worden zu sein. Das ist problematisch, da gerade diese Zielgruppe zur Meinungsbildung im Umfeld beiträgt und indirekt auf Marktmechanismen wirkt.

Konkrete Ansatzpunkte in zentralen Produktfeldern

Unsere Analyse zeigt außerdem deutliche Unterschiede zwischen Produktkategorien. Während bei fondsgebundenen Versicherungen zumindest regulatorische Mechanismen für eine gewisse Grundansprache sorgen, fällt das Thema in klassischen Sparten weit zurück. In keinem der analysierten Gespräche zu Wohngebäudeversicherungen wurde Nachhaltigkeit erwähnt – obwohl ökologische Gebäudestandards oder CO₂-reduzierende Maßnahmen naheliegende Gesprächsanlässe wären. Auch in den Gesprächen zur privaten Krankenversicherung spielte Nachhaltigkeit keine Rolle, obwohl beispielsweise Präventionsprogramme, ressourcenschonende Leistungsabwicklung oder nachhaltige Kapitalanlagen als Anknüpfungspunkte denkbar wären.

Nachhaltigkeit braucht Struktur – nicht nur Haltung

Fazit: Die Studienergebnisse zeigen, dass der Vertrieb der zentrale Hebel ist, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit im Versicherungsmarkt zu etablieren. Doch dafür braucht es mehr als Appelle an persönliche Verantwortung. Vermittler benötigen Sicherheit und Struktur. So kann etwa die Benennung fester Zuständigkeiten im Vertrieb dazu beitragen, das Thema intern zu verankern. Ebenso wichtig ist es, Vermittler gezielt weiterzubilden – nicht nur mit regulatorischem Wissen, sondern auch mit praktischen Tools, die im Gespräch Sicherheit geben. Kompakte Schulungsmaterialien, konkrete Gesprächshilfen und regelmäßige Trainings senken die Hemmschwelle, Nachhaltigkeit aktiv anzusprechen. Digitale Systeme wie CRM-Lösungen bieten zudem die Möglichkeit, Nachhaltigkeitspräferenzen strukturiert zu erfassen und in die Beratung zu integrieren. Auch finanzielle Anreize können wirken: Wenn nachhaltige Produkte besser vergütet oder besonders sichtbar gemacht werden, steigt die Relevanz des Themas im Vertriebsalltag deutlich.

Versicherer, die diese Lücke schließen, können sich nicht nur vom Wettbewerb abheben, sondern auch das Vertrauen einer anspruchsvollen Zielgruppe gewinnen. Der Markt ist bereit – doch er wartet auf ein klares Signal aus der Beratung.

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