Nachhaltigkeit ist als Wachstumsmotor für die Versicherungsbranche zum Glück nicht ins Stocken geraten – trotz der jüngsten Krisen aus Inflation, Angriffskrieg gegen die Ukraine und Energiepreisschock. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von Simon-Kucher: Rund 79 Prozent geben einem Versicherer, der beim Thema Umweltschutz glaubwürdig ist, den Vorzug gegenüber einem Standard-Versicherer – bei sozialen Themen sind es sogar 82 Prozent. Für entsprechende Produkte und Add-ons würden die Befragten im Schnitt 10 Prozent mehr bezahlen. Das damit verbundene Potenzial schöpft die Versicherungsbranche jedoch nur zum Teil aus. Der Grund: Viele Versicherer sehen in den Aspekten Nachhaltigkeit und Soziales vor allem ein regulatorisches Thema, das die Kosten für das Non-Financial-Reporting in die Höhe treiben und künftig mehr Aufwand bedeuten könnte als das Financial-Reporting. Das große Potenzial, mit dem das Thema Nachhaltigkeit für den Vertrieb verknüpft ist, schöpfen die Versicherer hingegen derzeit nicht aus. Auf Grund der Erfahrung aus den Projekten mit unseren Kunden sind vor allem vier Punkte entscheidend, damit der Wachstumsmotor Nachhaltigkeit dem Geschäft der Versicherer einen deutlichen Schub verleihen kann:

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1. Eine überzeugende Value Proposition entwickeln und umsetzen

Dirk Schmidt-GallasDirk Schmidt-GallasSenior-Partner und Leiter der globalen Versicherungs- Practice bei Simon-KucherSimon-Kucher & PartnersDas Thema Nachhaltigkeit erfolgreich umzusetzen, kommt für viele Versicherer einem Balanceakt gleich – mit einem größer werdenden Interesse der Kunden an nachhaltigen Produkten auf der einen und der zunehmenden Regulierung auf der anderen Seite. Die Krux für die Versicherer: Das, was gut für die Kundenkommunikation ist, muss nicht auch zwingend gut für die Taxonomie sein. Und das, was sich positiv auf die Taxonomie auswirkt, muss vom Kunden noch lange nicht als positive ESG-Maßnahme wahrgenommen werden. Das führt dazu, dass die meisten Versicherer keine nachhaltig-soziale Value Proposition für ihre Kunden haben, beziehungsweise diese nur ungenügend kommunizieren. Es ist wichtig, dass Versicherer ihre ESG-Maßnahmen sowohl nach der Relevanz für den Kunden als auch nach ihrem Einfluss auf die Nachhaltigkeitsstrategie bewerten. Unsere Erfahrung zeigt, dass Produkte oder Maßnahmen, die für den Kunden einfach nachvollziehbar sind, oft zu stärkeren Kaufimpulsen führen. So haben wir bei einem Projekt identifiziert, dass die Kunden für einen Umstieg von Papier auf eine digitale Kommunikation 20 Mal mehr empfänglicher waren als für eine Umstellung des Portfolios und ein damit verbundenes Millionen-Investment in einen Windpark – Versicherer sind also gut beraten, bei der nachhaltigen Ausrichtung ihres Produktportfolios und der damit verbundenen Kommunikation nicht nur die Taxonomie, sondern auch die Interessen der Kundschaft im Blick zu behalten.

2. Die Kunden differenziert behandeln

Die Interessen der Kunden sind auch von hoher Bedeutung, wenn es um das Monetarisierungspotenzial geht. In unseren Projekten habenFrank GehrigFrank GehrigPartner und Insurance Specialist bei Simon-KucherSimon-Kucher & Partners wir die Erfahrung gemacht, dass es nicht den einen Verbrauchertypus gibt. Stattdessen unterscheiden sich die Verbraucher stark hinsichtlich ihrer Treiber, Barrieren sowie im Hinblick auf ihre Verhaltensänderung, ihre Zahlungsbereitschaft und ihr Engagement. Für Versicherer kommt es darauf an, zu verstehen, wer ihre nachhaltigen Verbraucher sind, um die richtigen strategischen Initiativen zu entwickeln. Nur so können die Versicherer die Verbraucher für sich gewinnen, die auch das größte Monetarisierungspotenzial besitzen. Dazu ein Beispiel: Für Versicherer lohnt es sich genauso wenig, sich auf die Non-Believer, also die Leugner des Klimawandels, zu konzentrieren als auch die Planet-Saver. Sie wollen zwar den Planeten retten, das aber in erster Linie durch Verzicht erreichen, letztlich auch im Hinblick auf Versicherungsprodukte. Interessant sind stattdessen die sogenannten Champions, die den Klimaschutz mit nachhaltigem Handeln sowie Innovation verknüpfen und bereit sind, dafür auch ruhig den einen oder anderen Euro mehr auszugeben.

3. Die Say-do-Falle vermeiden

Wie finden Versicherer die entsprechenden Präferenzen der Verbraucher heraus? Durch Befragungen. Dabei sollten die Versicherer sehr genau vorgehen. Denn bei zu oberflächlichen Befragungen laufen sie Gefahr, bei Nachhaltigkeitsthemen noch stärker als bei anderen Themen in die sogenannte Say-Do-Falle zu tappen. Die Say- Do-Falle bedeutet, dass das reale Handeln der Verbraucher nicht die geäußerten Intentionen widerspiegelt. Ein Beispiel: Obwohl ein Großteil der Menschen bei Befragungen eine nachhaltige Tierhaltung fordert und sich bereit erklärt, mehr für Fleisch aus entsprechender Produktion zu bezahlen, liegt der Bio-Anteil bei Fleisch hierzulande bei unter 4 Prozent. Es kommt also darauf an, sich auf diejenigen zu konzentrieren, die am Ende das Tages wirklich mehr für nachhaltige Produkte bezahlen.

In Ausschreibungen um Maklermandate oder Vertriebspartnerschaften taucht das Thema Nachhaltigkeit ebenfalls immer wieder auf. Auch hier kann das Wissen um die Zielgruppe helfen, um die Konkurrenz auszustechen. Möchte ein Versicherer etwa Partner eines Verbandes in puncto betriebliche Altersvorsorge werden, hilft es, nicht nur die allgemeinen Maßnahmen in den Ausschreibungsunterlagen aufzulisten. Vielmehr sollten die Maßnahmen aufgeführt werden, die den Mitgliedern besonders wichtig sind. Wer das macht und die wichtigen Projekte auch bereits umgesetzt hat, kann mitunter den entscheidenden Punkt machen.

4. Nachhaltigkeit nicht als Hauptverkaufsargument nutzen

Um das entsprechende Potenzial zu heben, haben viele Versicherer ihre Produkte nachhaltig aufgeladen, neue Leistungen aufgenommen und grüne Bausteine gebaut. Der Erfolg ist in vielen Fällen aber eher bescheiden und viele Versicherer sind enttäuscht. Die Gründe sind vielfältig und von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Oft liegt es daran, dass eine stringente Verbindung aus Strategie, Offering, Vermarktung und Verkauf fehlt. So zeigt unsere Projekterfahrung aus verschiedenen europäischen Versicherungsmärkten, dass Nachhaltigkeit bei der Vermarktung und beim Verkauf nicht den Mittelpunkt des Wertversprechens einnehmen sollte. Stellt man die Nachhaltigkeit an die erste Stelle, können eben nur die ohnehin schon Überzeugten gewonnen werden. Eine Vervielfachung des Potenzials ist möglich, wenn zuerst die überlegene und zusätzliche Leistung des Produktes in den Fokus gerückt wird. Nachhaltigkeitsargumente sollten erst anschließend ausgespielt werden.

Wie die Vertriebspotenziale konkret genutzt werden können, zeigt ein Projekt bei einem Simon-Kucher-Klienten. Hier wurde ein Premiumprodukt eingeführt, das zusätzliche Leistungen bietet und Nachhaltigkeitsaspekte besonders berücksichtigt. Was bedeutet: Es wird unter anderem geprüft, ob ein Gegenstand repariert werden kann, anstatt ihn direkt auszutauschen oder bei einem größeren Schaden der Neubau mit entsprechenden Technologien nachhaltig durchgeführt. Bevor das Produkt aber gemeinsam mit dem Kunden entwickelt wurde, haben die Projektverantwortlichen zunächst die nachhaltige Leistung aus Kundensicht bewertet: Was floppt, was begeistert und was führt zu einer höheren Zahlungsbereitschaft? Anschließend wurde das Marktpotenzial kalkuliert und entschieden, ob eine Wahlmöglichkeit oder Pflicht zum nachhaltigen Produkt besteht. Im letzten Schritt konnte im Rahmen des Projekts dann das Produkt, der Preis und das Margenziel finalisiert sowie das Einführungs- und Vertriebskonzept abgeleitet werden.

Wobei beim Pricing für das Produkt nicht nur die Kosten, sondern auch die ermittelte höhere Zahlungsbereitschaft der Kunden ausschlaggebend war. Dadurch konnte eine um 11 Prozent höhere Durchschnittsprämie erzielt werden. Außerdem entschieden sich 28 Prozent der Kunden für das neue Produkt und die prozentuale Marge der Sparte verbesserte sich um drei Prozentpunkte.

Nachhaltigkeit nachgelagert anzusprechen, hat zudem den Vorteil, dass Nachhaltigkeitsargumente die Funktion des „über die Linie Ziehens“ übernehmen können – dadurch können Rabatte eingespart werden. Mit den richtigen Argumenten zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen kommunikativen Verpackung konnte der Vertrieb im genannten Beispiel 2,5 Prozentpunkte an Rabatten einsparen.

Fazit

Versicherer sollten die mit dem Thema Nachhaltigkeit verbundenen kommerziellen Chancen ergreifen, indem sie in allen Stufen der Wertschöpfungskette die möglichen Maßnahmen erfassen und bewerten. Dafür müssen sie allerdings über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen und die Nachhaltigkeit zum Kern ihrer Geschäftsstrategie machen. Im Zuge dessen sollten Versicherer unbedingt darauf achten, dass sie mit ihren Kunden, Maklern und Vertriebspartnern einen Soll-Ist- Vergleich durchführen und ein Say-Do-Gap vermeiden. Wer all das richtig umsetzt und die Möglichkeiten versteht, die das Thema bietet, kann einen echten Wettbewerbsvorteil schaffen – und zufriedene und treue Kunden für sich gewinnen.

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Die Autoren:
Dirk Schmidt-Gallas, Senior-Partner und Leiter der globalen Versicherungs- Practice bei Simon-Kucher
Frank Gehrig, Partner und Insurance Specialist bei Simon-Kucher

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