Die gesetzliche Pflegeversicherung wird das Jahr 2022 voraussichtlich mit einem Defizit von 2,2 Milliarden Euro abschließen. Das berichtet Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er warnt vor einem dramatischen Geldmangel im gesetzlichen Pflegesystem - und wirft der Bundesregierung Untätigkeit vor.

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Die sogenannte Liquiditätsreserve in der sozialen Pflegeversicherung werde voraussichtlich bis Ende des Jahres auf 5,7 Milliarden Euro sinken, sagte Kiefer: Das sind rund 1,2 Milliarden Euro weniger als gesetzlich vorgeschrieben. Dieser Finanzpuffer dient dazu, unerwartete Einnahme-Schwankungen auszugleichen: etwa infolge einer Wirtschafts-Rezession, die zu Ausfällen bei den Einnahmen führen kann.

Damit sei die finanzielle Notlage sogar „noch dramatischer, als es auf den ersten Blick erscheint“, so Kiefer. Denn die Reserve beinhalte bereits ein Darlehen des Bundes von einer Milliarde Euro, das bis Ende 2023 zurückgezahlt werden müsse. Man könne durch „Zahlenakrobatik“ die Finanzprobleme zwar noch einige Monate vor sich herschieben, warnt der Sozialökonom. „Nach unseren Prognosen sind aber spätestens im zweiten Halbjahr die Finanzreserven massiv in den Keller gefahren“.

“Dann fährt die Pflegeversicherung gegen die Wand!“

Um das drohende Defizit auszugleichen, hätte eigentlich der Beitragssatz für die Pflegeversicherung zum 1. Januar 2023 um 0,3 Prozentpunkte angehoben werden müssen, berichtet Kiefer. „Die Ampel-Koalition hat jedoch entschieden, nicht zu entscheiden. Eine solide und nachhaltige Politik sieht anders aus“, kritisiert er. Die Probleme würden umso größer, je länger man politische Entscheidungen aufschiebe. „So kann man nicht ewig weitermachen, dann fährt die Pflegeversicherung gegen die Wand“, warnt Kiefer.

Die Gründe für Mehrausgaben sind vielfältig: auch wenn Kiefer nicht detailliert darauf eingeht. So führt eine steigende Zahl älterer Menschen in Deutschland dazu, dass mehr Menschen auf Pflege angewiesen sind. Die aktuelle Rekord-Inflation trägt ebenfalls dazu bei, dass sich Pflegeleistungen verteuern. Eine weitere Ursache sind politische Reformen. Mit der Pflegereform der Bundesregierung aus dem Jahr 2017 wurde die Zahl der Anspruchsberechtigten für Pflege-Leistungen erhöht. Seit dem 1. September 2022 sind die Pflegeeinrichtungen in Deutschland zudem verpflichtet, ihre Beschäftigten in Pflege oder Betreuung mindestens auf Tarifniveau zu bezahlen.

Zahl der Pflegebedürftigen dürfte weiter steigen

Die Finanzierungsprobleme dürften sich künftig noch verschärfen. Laut einer Kurzanalyse des Wissenschaftlichen Instituts der PKV (WIP) ist in den kommenden Jahren mit einer deutlich steigenden Zahl an Pflegebedürftigen zu rechnen. Ausgehend von 4,9 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2021 sei bereits bis 2025 eine Zunahme um weitere 500.000 Pflegebedürftige auf dann 5,46 Millionen zu erwarten. Der steigende Trend setzt sich danach weiter fort: je nach Szenario werden 5,65 bis 5,75 Millionen Pflegebedürftige bis zum Jahr 2030 erwartet.

Dass die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt, resultiert zum Teil aus der Alterung der Gesellschaft: Statistisch haben Hochbetagte eine höhere Wahrscheinlichkeit, auf Pflege angewiesen zu sein. Aber auch eine Gesetzesänderung trug dazu bei. Im Jahr 2017 war der Pflegebegriff reformiert worden, sodass erstmals Menschen mit geistigen Einschränkungen -vor allem Demenz- als pflegebedürftig eingestuft wurden. Das führte zu einer deutlichen Ausweitung der Anspruchsberechtigten.

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Das WIP verweist darauf, dass Prognosen der Vergangenheit den Trend deutlich unterschätzt haben. Das Bundesgesundheitsministerium rechnete noch im Jahr 2014 mit 2,85 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2020 und mit 3,31 Millionen in 2030. Die Bertelsmann-Stiftung hatte 2012 für das Jahr 2030 rund 3,4 Millionen Pflegebedürftige vorausgesagt. „Eine Ursache für die Unterschätzung ist, dass die Definition von „Pflegebedürftigkeit“ letztlich eine politische Größe darstellt“, schreibt das WIP Institut. Mit anderen Worten: Politische Eingriffe wie die Pflegestärkungsgesetze können dazu beitragen, dass sich Zahlen schnell als überholt entpuppen.

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