Anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) in Bonn appelliert Herbert Schneidemann, Vorstandsvorsitzender der DAV, dass Aktuare künftig bei ihren Risikomodellen auch Kriegsfolgen berücksichtigen.

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Das Jahr 2022 werde zentrale Weichen für das Versicherungswesen und damit die Aktuarinnen und Aktuare stellen, sagt Schneidemann. So werde das EU-Parlament die Beratungen über die Review von Solvency II intensivieren, die Bundesregierung habe ein weiteres Rentenpaket mit umfangreichen Auswirkungen auf die kapitalgedeckte Altersvorsorge angekündigt und die EU-Kommission will ihren Green Deal weiter vorantreiben, der auch für Versicherer Relevanz habe.

„Die größte Herausforderung werden aber die unabsehbaren Folgen des schrecklichen Kriegs in der Ukraine sein, dessen Auswirkungen auf die Opfer uns tagtäglich den Atem stocken lassen“, so Schneidemann. Neben den dramatischen Folgen für die Menschen werde auch die Wirtschaft deutlich vom Kriegsgeschehen beeinflusst. Auch wenn die deutschen Versicherer nur vergleichsweise geringe Kosten zu tragen hätten, würden das verlangsamte Wirtschaftswachstum, die auf Rekordniveau gestiegene Inflation und die auch kriegsbedingte Zurückhaltung der Europäischen Zentralbank beim Ausstieg aus der lockeren Zinspolitik ihre Spuren hinterlassen. „Wir werden als Risikomanager entsprechende Vorkehrungen treffen müssen und die Modelle auf weitere Unwägbarkeiten vorbereiten“, sagt der Versicherungsmathematiker.

“Dafür fehlen jegliche Grundlagen“

Was der Ukraine-Krieg die Versicherer direkt kosten wird, ist aktuell nicht absehbar. Die Ratingagentur S&P hat die Kosten für die weltweite Versicherungswirtschaft auf 16 bis 35 Milliarden Dollar geschätzt. „Die meisten Versicherungssparten sind überwiegend national ausgerichtet, so dass auch die Sanktionen dort kaum eine Rolle spielen. In einzelnen Sparten können der Krieg und die Folgen hingegen durchaus spürbar werden“, hatte sich bereits der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) positioniert.

Joachim Wenning, Chef des größten Rückversicherers Munich Re, hatte aber gegenüber dem Handelsblatt zu bedenken gegeben, dass man die Kosten für die Versicherungswirtschaft schwer abschätzen könne. „Kriegsgefahren haben wir in Extremszenarien im Blick. Aber wir modellieren sie nicht annähernd so präzise wie etwa Naturkatastrophen. Dafür fehlen jegliche Grundlagen. Außerdem gilt: Krieg ist nicht versicherbar, weil er ruinös ist.“

Zwar seien Kriegsfolgen in den wichtigsten Sparten wie Personen- und Sachversicherungen ausgeschlossen. Aber „bei den Spezialversicherungen, zum Beispiel Luftfahrt, Schifffahrt oder Transport, können Kriegsschäden direkt oder indirekt mitversichert sein“, so Wenning. Der Firmenchef erwartet lange Rechtsstreite, in denen geklärt werden muss, wann der Versicherungsschutz bei direkten und indirekten Kriegsfolgen greife - und wann nicht.

Dass dennoch bei einzelnen Versicherungsarten enorm hohe Kosten drohen, zeigt das Beispiel geleaster Flugzeuge in Russland. Nachdem die westlichen Staaten Sanktionen gegen Russland verhängt hatten, hat Russland 523 Flugzeuge einfach einbehalten und nicht an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Allein der weltgrößte Flugzeug-Leasingkonzern Aercap meldete bei den Assekuranzen Schäden in Höhe von 3,5 Milliarden US-Dollar an - und besitzt nur einen Teil der Jets. Weitere hohe Kosten werden durch mögliche Cyberangriffe auf Firmen und kritische Infrastruktur erwartet.

Schneidemann spricht die möglichen indirekten Folgen des Krieges nicht direkt an: ein mögliches Szenario ist aber zum Beispiel, dass sich vermehrt Menschen von ihren Altersvorsorge-Verträgen trennen, etwa, um sehr hohe Energierechnungen zu finanzieren. Und dann folglich auch das Neugeschäft schwächelt. Auch wenn es nicht zu Massenkündigungen kam, waren ähnliche Tendenzen bereits in Zeiten der Corona-Krise erkennbar, als vielen Menschen Teile ihres Einkommens wegbrachen. Auch könnte die Gefahr terroristischer Anschläge oder von Attentaten erneut steigen.

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Letztendlich könnte der Krieg mit dazu beitragen, dass es für bestimmte Risiken gar keinen Versicherungsschutz mehr durch private Anbieter gibt: ebenfalls mit Folgewirkungen für die Wirtschaft. So berichtet Munich-Re-Chef Wenning, dass bestimmte Firmen schon keine ausreichende Cyberversicherung mehr finden, um ihre IT gegen Hackerangriffe abzusichern. „Die Nachfrage übersteigt das Angebot deutlich“, so Wenning. Hier seien Poollösungen mit dem Staat gefragt: soll heißen, Staat und Versicherungsbranche teilen sich das Risiko. Doch dafür müsste die Politik tätig werden.

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