Erstens kommt es anders. Und zweitens als man denkt. Oder hätten Sie damit gerechnet, dass eine weltweite Pandemie die Weltwirtschaft lahmlegen könnte? Die 2.700 Risikoexperten aus über 100 Ländern, die die Allianz Ende 2019 zu den größten Unternehmensrisiken befragte, taten das nicht. Lediglich auf Platz 17 rangierte das Risiko, das von einer Pandemie ausgeht, im Allianz Risk Barometer des Jahres 2020. IT-Gefahren und Sorgen vor einer Betriebsunterbrechung nahmen damals die Spitzenplätze ein. Eine Fehleinschätzung, die vielen Unternehmen viel Geld gekostet hat.

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Dr. Thomas SeppDr. Thomas Seppist Chief Claims Officer und Vorstandsmitglied der Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS)AGCSDas Beispiel zeigt: Risikomanager haben es nicht leicht, stets den Blick für kommende Gefahren im Blick zu haben. Zwar leben wir in einer Zeit, in der technologische, wirtschaftliche, demographische, gesellschaftliche und geopolitische Trends großartige neue Geschäftsmöglichkeiten für Unternehmer bieten- diese schaffen aber auch eine Vielzahl neuer Risiken. Für die Risikomanager heißt das: Sie müssen sich nach wie vor mit altbekannten Gefahren auseinandersetzen, wie etwa die verheerende Flutkatastrophe in Westdeutschland gezeigt hat. Zugleich müssen sie sich auch neuen Herausforderungen stellen, die in ihrem vollen Umfang oft nicht greifbar, weil schwer einzuschätzen sind: Die Digitalisierung, die Abhängigkeit von Lieferanten, soziale Inflation oder ESG-Themen.

Cyber-Angriffe: Die Angst vorm „perfekten Sturm“

Wenn es nach Cyber-Security-Experten geht, dann müssen sich Unternehmen auf einen „perfekten Sturm“ von Cyberkriminalität vorbereiten. Die Covid-19-Pandemie hat zu einem schnellen und weitgehend ungeplanten Anstieg der Arbeit von zu Hause und des elektronischen Handels sowie zu einer rasanten Beschleunigung der Digitalisierung geführt. Das ist ein perfektes Umfeld für Kriminelle. Bei AGCS haben wir 2020 einen (vorläufigen) Spitzenwert von knapp 1.000 Schadenfällen in der Cyberversicherung registriert, an denen wir und andere Versicherer beteiligt waren – zehn Mal mehr als noch vor vier Jahren. Ganz oben auf der Bedrohungs-Agenda der Cyberexperten in den Unternehmen stehen Ransomware-Angriffe, die in Häufigkeit und Schwere weiter zunehmen und immer höhere Lösegeldforderungen mit sich bringen.

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Soziale Inflation: Sorge vor Millionenstrafen

Mit sozialer Inflation wird ein Trend zu höheren Abfindungssummen von Geschädigten in den USA bezeichnet, der zu noch häufigeren und kostspieligeren Haftpflichtschäden für Versicherer und Unternehmen führt. Betriebs- und Produkthaftpflichtversicherungen sowie Kfz-, Berufs-, Kranken-, Arbeiterunfall- und D&O-Versicherungen können betroffen sein. Eine Studie von VerdictSearch zeigt, dass die Häufigkeit von gerichtlich zugesprochenen Entschädigungen von 20 Millionen Dollar oder mehr im Jahr 2019 im Vergleich zum Jahresdurchschnitt von 2001 bis 2010 um mehr als 300 Prozent gestiegen ist.

Betriebsunterbrechung: Wenn die Lieferkette reißt

Aktuell sind wir im deutschen Haftungsrecht zum Glück noch weit von Strafen in zwei- oder gar dreistelliger Millionenhöhe entfernt. Dennoch gedeihen die Treiber für soziale Inflation auch hierzulande: Kollektive Rechtsmittel wurden in den letzten Jahren in vielen EU-Ländern verankert; auch in Deutschland haben zehntausende von Verbraucherklagen im Dieselskandal die Wirksamkeit dieses Instruments belegt.

Betriebsunterbrechung: Wenn die Lieferkette reißt

Die Pandemie hat gezeigt, dass extreme Betriebsunterbrechungs-Risiken globalen Ausmaßes nicht nur theoretisch, sondern real eine Bedrohung sind, die zu massiven Umsatzverlusten und Unterbrechungen von Produktion, Betrieb und Lieferketten führen können. Covid-19 reiht sich damit in die ohnehin schon lange Liste der BU-Szenarien ohne voran gegangenen Sachschaden wie Cyber- oder Stromausfälle ein. Als Reaktion auf die erhöhte BU-Anfälligkeit sind viele Unternehmen bestrebt, ihre Betriebsabläufe widerstandsfähiger zu machen und ihre Lieferketten robuster zu gestalten. An einer Szenario-basierten Business-Continuity Planung, die die eigene Aufstellung und die Belastbarkeit von Lieferketten unter verschiedenen Szenarien kritisch hinterfragt, geht kein Weg vorbei. Potenzielle Auswirkungen auf das Geschäft müssen erkannt und durchgespielt sein, Maßnahmen-Pläne vorliegen und getestet sein, bevor die Krise an die Türe klopft.

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Environmental, Social, Governance: Gute Unternehmensführung auf dem Prüfstand

Die ethischen Maßstäbe, die im Rahmen von ESG-Anforderungen an Unternehmen gestellt werden, haben sich in den vergangenen Jahren massiv erhöht. Ob Erderwärmung, Artenvielfalt, Diversität oder Vorstandsbezüge: CEOs sind umfassend Rechenschaft schuldig und sehen sich regelmäßig Kampagnen von Aktivisten und NGOs ausgesetzt. Auch die Kapitalmärkte fordern Einsatz für eine klimafreundliche Wirtschaft oder Audits zu Inklusion. Der verbale und mediale Druck geht einher mit einer Regulierungswelle von neuen Gesetzen, Normen und Pflichten für Unternehmen. Seit 2018 zählte die Kanzlei Smith Freehills über 170 neue ESG-Vorschriften für Geldanlagen weltweit – mehr als die Summe der Vorschriften in den sechs Jahren zuvor. Jüngstes Beispiel ist das Lieferkettengesetz, mit dem nun auch deutsche Firmen für die Einhaltung von Menschenrechten bei ihren Zulieferern in die Verantwortung genommen werden.

D&O: Steigende Insolvenzrisiken, wachsende Bedrohungen der Cybersicherheit

Die Covid-19-Pandemie hat ein äußerst volatiles und unsicheres Umfeld für Unternehmen geschaffen, das zu einer Vielzahl neuer oder erhöhter Risiken für Geschäftsführer, Vorstände und Aufsichtsräte (Directors & Officers/D&O) führt und die Situation auf dem ohnehin bereits angespannten D&O-Versicherungsmarkt weiter verschärft. Steigende Insolvenzrisiken, wachsende Bedrohungen der Cybersicherheit und eine anhaltend hohe Zahl von Aktionärs-Sammelklagen gehören zu den Hauptrisiken, für die Unternehmensorgane haftbar gemacht werden können.

Im Jahr 2021 müssen Unternehmen und ihr Management auch vor „ereignisgetriebenen Rechtsstreitigkeiten“ auf der Hut sein. Auslöser sind hier denkbar vielfältig – es kann ein tragischer Industrieunfall sein, aber auch ein als unzureichend wahrgenommenes Diversity-Management, eine schlechte Nachhaltigkeits-Performance oder die falsche Einschätzung von Covid-19-Risiken.

Klimawandel: Höhere Sachschadenrisiken und Klima-Klagen

Aktuelle Untersuchungen des Allianz Kompetenzzentrums für Naturkatastrophen bei der Allianz Re belegen, dass die Häufigkeit von starken Hurrikans in den letzten 40 Jahren um 15 Prozent gestiegen ist – pro Jahrzehnt. Die heißeren und längeren Trockenperioden der letzten Jahre führen auch zu einer höheren Waldbrandgefahr, wie etwa in diesem Jahr in der Türkei zu sehen ist. Eine wärmere Erdatmosphäre kann zudem mehr Wasser aufnehmen, so dass wir in manchen Gegenden mit stärkeren Regenfällen rechnen müssen. In Großbritannien zum Beispiel fielen sieben der bislang elf regenreichsten Jahre seit 1862 in die Zeit ab 1998.

Neben Sachschäden durch klimabedingte Wetterextreme drohen auch neue Haftungsszenarien: Mehr als 1500 Klima-Klagen in 37 Ländern sind bereits gegen „carbon majors“ anhängig. Auch das Thema Klima-Compliance ist mit Blick auf die bestehende und geplante Regulierung auf dem Weg hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaft keineswegs zu unterschätzen.

Aufmerksamkeit auf neue Risiken

Die Beispiele zeigen vor allem eins: Unternehmen müssen künftig ein breiteres Spektrum an Szenarien in Betracht ziehen, um auf zukünftige Risiken vorbereitet zu sein. Die Industrieversicherung war in der Vergangenheit immer aufgeschlossen, neue Deckungsalternativen für eine ganzheitliche Kundenbetreuung zu entwickeln und sie wird es weiterhin sein. Umgekehrt braucht es aber auch den Versicherungsmanager, der in seiner Organisation die nötige Aufmerksamkeit für neuen Risiken schafft und den Wert von neuen Versicherungslösungen schärft. Dabei stehen wir gerne beratend zur Seite.

Über den Autor: Dr. Thomas Sepp ist als Chief Claims Officer und Vorstandsmitglied der Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) für die globale Schadenabteilung des Industrieversicherers der Allianz Gruppe zuständig. Zuvor war er als AGCS Chief Underwriting Officer Corporate unter anderem für die Sach- und Haftpflichtversicherung der AGCS verantwortlich.

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Hinweis: Dieser Text erschien zuerst im Versicherungsbote Fachmagazin 02/2021.

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