In einem aktuellen Kommentar für Zeit Online fordert Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin, eine Rentenreform. Grund ist diesmal nicht allein der demographische Trend, wonach immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentnern gegenüberstehen: Fratzscher hält das Rentensystem zudem für sozial ungerecht. „Unser Rentensystem entwickelt sich immer stärker zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben, von Arm zu Reich“, schreibt der Ökonom in dem Beitrag.

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Die Sache mit der Lebenserwartung

Warum aber hält Fratzscher das Rentensystem für ungerecht? Ein wichtiger Treiber liege in der unterschiedlichen Lebenserwartung je nach Stellung im Beruf und nach Bildungsniveau, wie eine aktuelle Studie des DIW zeige. Besonders bei Männern klafft demnach eine gewaltige Lücke: Verbeamtete Männer leben im Schnitt mehr als fünf Jahre länger als männliche Arbeiter. Bei Frauen beträgt der Unterschied immer noch drei Jahre.

Männliche Beamte im Alter von 65 Jahren können noch mit weiteren 21,5 Lebensjahren rechnen, gleichaltrige Angestellte und Selbstständige nur noch mit 19 Jahren. Die verbleibende Lebenserwartung ist bei männlichen Arbeitern am Geringsten: ihnen bleiben im Schnitt lediglich weitere 15,9 Jahre. Das ergab ein Abgleich von Daten des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) mit amtlichen Sterbetafeln. Die geringere Lebenserwartung der Arbeiter gehe einher mit einer höheren physischen und psychischen Belastung im Job, wie die Daten zeigen würden. Anders formuliert: Wer malocht, stirbt im Zweifel eher als jemand, der im Büro arbeitet.

Diese unterschiedliche Lebenserwartung stellt das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rente infrage, gibt Fratzscher zu bedenken: Die sei Augenwischerei bzw. unfair. Das Äquivalenzprinzip besagt, dass jeder Euro, der in die Rentenkasse eingezahlt wird, auch den gleichen Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen im Alter nach sie ziehe. Zudem haben Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur eine deutlich kürzere Lebenserwartung, sondern beziehen geringere Löhne und Einkommen und somit ohnehin niedrigere monatliche Renten.

„All dies bedeutet, dass die gesetzliche Rentenversicherung Deutschlands eine Umverteilung von unten nach oben, von Arm zu Reich ist. Dies geht so weit, dass einzelne Einkommens- und Berufsgruppen bei der gesetzlichen Rentenversicherung eine "negative Rendite" erzielen: Sie zahlen während ihrer Erwerbstätigkeit mehr Euro in die gesetzliche Rente ein, als sie im Alter an Rente insgesamt ausgezahlt bekommen“, schreibt der Ökonom. Auch die Steuerzuschüsse von jährlich 100 Milliarden Euro würden überproportional den Besserverdienenden zugute kommen.

Rentenanspruch von Berufsgruppen abhängig machen

Fratzscher gesteht zwar zu, dass die geringe Lebenserwartung auch vom individuellen Verhalten abhängig ist, folglich nicht allein vom Beruf und Einkommen abhängig: etwa der Ernährung, dem Konsum von Tabak und Alkohol. Richtig sei aber auch, dass die Lebenserwartung von der Art der Arbeit abhänge. Zudem sei es zynisch, Menschen mit geringem Einkommen vorzuhalten, dass sie sich nicht so gesund ernähren und seltener in den Urlaub fahren.

Deshalb fordert der 50jährige Reformen: die Tatsache, dass die Rente durch eine älter werdende Gesellschaft immer mehr unter Druck gerät, rechnet er bereits ein. Doch das Rentenalter einfach anzuheben, würde die ohnehin bestehende Kluft weiter verstärken: viele würden nicht einmal bis zum Rentenalter durchhalten.

In der DIW-Studie werden mehrere Lösungsvorschläge debattiert, berichtet Fratzscher. Sehr kompliziert und daher kaum umzusetzen sei es, ein unterschiedliches Renteneintrittsalter für verschiedene Berufsgruppen festzulegen, sodass Menschen mit psychisch belastenden oder schweren körperlichen Arbeiten zeitiger in Rente dürfen, während für andere Berufe ein späterer Renteneintritt festgelegt wird. Grundsätzlich sei es eine Option, einen flexibleren Renteneintritt zu erlauben: aber hierbei müsse die Entscheidung stärker von Arbeitgebern hin zu den Arbeitnehmern verlagert werden.

Grundsätzlich spricht sich Fratzscher für einen flexibleren Renteneintritt und ein differenzierteres Renteneintrittsalter aus: aber das würde allein nicht das Problem lösen, dass von Arm zu Reich umverteilt werde, schreibt Fratzscher. Notwendig sei, auch das Äquivalenzprinzip anzufassen. Menschen, die in ihren Berufen psychisch und physisch hart belastet werden, sollen folglich einen höheren monatlichen Rentenanspruch erwerben: mit dem Ziel einen Ausgleich zur geringeren Lebenserwartung zu schaffen sowie Altersarmut zu vermeiden. Die meisten Industrieländer würden dies bereits umsetzen, berichtet der DIW-Chef: ohne weitere Details zu nennen.

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Ein Instrument für mehr Ausgleich könnte eine Mindestrente nach dem Vorbild von Österreich oder der Niederlande sein. Zwar habe die Bundesregierung mit der Grundrente bereits einen Schritt in diese Richtung unternommen: dieser sei aber zu restriktiv und viele Menschen würden ignoriert. Eine weitere Stellschraube: höhere Löhne und Einkommen während des Erwerbslebens. Deutschland habe einen der größten Niedriglohnsektoren, worunter die Lebensqualität leide.

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