Es ist etwas faul im Rechtsstaat Deutschland. Das zumindest ist die Position von Walter Seitz, Jurist mit langer Erfahrung: Der Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München war bis 2003 Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht (OLG) München. Schon vor etwa einem Jahr kritisierte der Experte die Weigerung vieler Versicherer, für Betriebsschließungen durch Corona zu zahlen (Versicherungsbote berichtete). Nun hat Seitz ein neues Gutachten (liegt Versicherungsbote vor) erstellt – hierin kritisiert der engagierte Jurist nicht mehr nur die Versicherer mit ihren Vertragswerken, sondern auch die Praxis der Rechtsprechung.

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Versicherungsbedingungen dürfen nicht wie Gesetzestexte ausgelegt werden

Grundlage der Kritik ist ein Obersatz der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), den Seitz mit Engagement verteidigt: Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind so auszulegen, wie ein „durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer“ sie „bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs“ versteht. Wichtig: Hierbei kommt es auf Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers „ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse“ an. Nicht die Sicht hochspezialisierter Juristen auf AVB-Klauseln sollte also Maßstab der Rechtsprechung sein, sondern das Verständnis der Verbraucher.

Die „objektive Auslegung“ wird ignoriert

Der wichtige Obersatz aber gerät in Praxis unter die Räder. Denn Richter aller Instanzen – sogar die Richter des für Versicherungen zuständigen Senat des Bundesgerichtshofs – ignorieren laut Seitz die geforderte „objektive Auslegung“. Um nämlich Verbraucher zum Maßstab der Auslegung zu machen, müssten überhaupt erst Umfragen zum Verständnis bestimmter Klauseln durchgeführt werden – und zwar jeweils spezifisch als Form der Beweisaufnahme vor Gericht. Stattdessen unterstellen die Richter dem Versicherungsnehmer einfach ein Verständnis durch eigene Deutungen.

Im gesamten Klageverfahren fehlt laut Seitz die Sicht des Versicherungsnehmers. Äußern sich doch folgende Akteure mit ihrer juristischen Deutungsmacht:

  • die Klägeranwälte tragen ihre Überlegungen vor;
  • die Beklagtenanwälte tragen ihre Überlegungen sowie Überlegungen ihrer Versicherung vor;
  • die Richter der ersten Urteilsinstanz schreiben, wie sie die AVB auslegen – und sie nehmen hierfür an, „was der Kläger versteht“;
  • die Berufungsrichter nehmen darauf Bezug – und urteilen erneut unter der Annahme, was der Kläger verstehen müsste.

Unterstellungen als Grundlage der Urteile

Seitz pointiert: „Und niemand fragt die Versicherungsnehmer, obwohl der BGH klar und unmissverständlich verlangt, dass auf deren Verständnis abzustellen ist.“ Stattdessen werden nur „Vermutungen“, ja „Unterstellungen“ geäußert und zur Grundlage der Urteile gemacht. Feststellungen über das Verständnis von Klauseln aber würden „leider überhaupt nicht getroffen", ja: nicht einmal „versucht“.

Wie problematisch ein solches Verfahren ist, verdeutlicht Seitz an den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Denn ist es den Richtern überhaupt möglich, sich an die Stelle eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu setzen? Seitz verneint dies. Für Seitz ist das Problem derart grundlegend, dass er sogar von einer „künstlichen Privatrechtsordnung“ spricht.

„Der BGH hat eine künstliche Privatrechtsordnung aufgebaut“

Der engagierte Jurist schreibt: „Es liegt eher fern, dass die Mitglieder des Versicherungssenats – auf das Versicherungsrecht hoch spezialisierte Spitzenjuristen – in der Lage sind, sich in ihre Kunstfigur des durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu versetzen. Sie müssten hierzu ihre Spezialkenntnisse im Versicherungsrecht, das sie in Deutschland entscheidend prägen, zur Seite schieben, ganz einfach vergessen, und sich in einen rechtlich unbedarften Normalbürger umwandeln. Es ist aus meiner Sicht ausgeschlossen, dass ihnen dies gelingen kann. Der BGH hat mit dieser Rechtsprechung eine künstliche Privatrechtsordnung aufgebaut, die mit der Lebenswirklichkeit und mit den realen Versicherungsnehmern wohl nichts zu tun hat.“

Seitz behauptet diese Kritik nicht nur, sondern untermauert sie durch Zitieren verschiedener Urteilstexte. Er kommt zu dem Fazit: Der Versicherungsnehmer soll all das erkennen müssen, „was die hochspezialisierten Richter beim Versicherungssenat erkennen“. Für den Juristen ist das „kaum vertretbar“.

Einige Urteile muten dem Versicherungsnehmer sogar „rechtliche Abwägungen“ zu – obwohl sogar ein solches Abwägen durch Juristen laut Seitz „hochumstritten“ ist. Letztendlich werde die „Kunstfigur des maßgeblichen Versicherungsnehmers“ laut Seitz von hochspezialisierten Juristen „ausgehebelt“ und durch deren eigenes Verständnis ersetzt.

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Seitz hält viele Klauseln für intransparent … und damit für unwirksam

Seitz stellt auch eine These auf, was Umfragen ergeben würden, sobald man Versicherungsnehmer zur Bedeutung konkreter Klauseln tatsächlich befragen würde: Viele Klauseln in Allgemeinen Versicherungsbedingungen seien mehrdeutig und intransparent. Dies müsste zu Folgen führen gemäß Paragraf 305c Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sowie gemäß Paragraf 307 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Denn Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind laut BGB unwirksam, wenn sie nicht klar und verständlich sind. Und Zweifel an der Auslegung müssten vor Gericht zugunsten des jeweils unterworfenen Versicherungsnehmers verstanden werden.

Die große Uneinigkeit der Gerichte zur Betriebsschließungsversicherung

In diesem Kontext wirkt es beinahe komisch, wenn selbst Gerichte zu den gleichen AVB völlig widersprüchliche Urteile fällen. Dies aber geschieht in ersten Urteilen zur Betriebsschließungsversicherung – erneut engagiert sich Seitz aus eigenem Antrieb für jene Gewerbetreibenden, denen Zahlungen durch die Versicherer in Zeiten von Corona verwehrt werden.

Ein Streitpunkt zwischen Versicherungsnehmern und Versicherern betrifft zum Beispiel die Frage, ob Listen, wie sie in einigen AVB zur Betriebsschließungsversicherung enthalten sind, abschließenden Charakter haben oder nicht. Denn Versicherer leisten laut vielen AVB, wenn eine zuständige Behörde aufgrund des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) den versicherten Betrieb schließt. Pauschal verweisen fast alle Vertragswerke auf dieses Gesetz – genauer: auf Paragraf 6 und Paragraf 7 des IfSG. In diesen Paragrafen werden die meldepflichtigen Krankheiten aufgezählt.

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Versicherer machen sich überholte Auflistungen zum Argument

Allerdings haben viele Vertragswerke der Versicherer Krankheiten selbst gelistet – und zwar mit dem überholten Stand zurückliegender Jahre (Versicherungsbote berichtete). Versicherer machen sich nun ihre alten Listen zum Argument: Weil das Coronavirus COVID-19 erst im Januar 2020 durch das Bundesgesundheitsministerium als meldepflichtige Krankheit erfasst wurde, fehlt die Krankheit in den meisten Verträgen. Die Versicherer sehen sich sprichwörtlich aus dem Schneider und argumentieren, sie müssten für Betriebsschließungen wegen COVID-19 nicht zahlen.

Was den Vertragswerken der meisten Anbieter aber fehlt: explizite Leistungsausschlüsse für neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten. Und die pauschale Verweisung auf dieses Gesetz gibt den Listen der Versicherer aus Sicht von Seitz keinen ausschließenden, sondern einen beispielhaften Charakter. Zumal laut ständiger Rechtsprechung Versicherungsnehmer nicht damit zu rechnen brauchen, dass in ihrem Versicherungsschutz unerwartete Lücken enthalten sind. Kann von einem Versicherungsnehmer wirklich verlangt werden, Veränderungen im Infektionsschutzgesetz zu verfolgen, um ständig den Versicherungsschutz neu zu verhandeln? Eine seltsame Vorstellung.

Gerichte sind sich uneinig

Ist die Klausel aber aus Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers so zu verstehen, dass auch bei neu aufgenommenen Krankheiten der Versicherer leistet, wären die Versicherer gemäß „objektiver Auslegung“ auch in der Leistungspflicht. Wie aber entscheiden nun in dieser Frage die Gerichte? Sie entscheiden völlig gegensätzlich:

  • Ein Urteil des Landgerichts (LG) Ellwangen vom 17.09.2020 (Az. 3 O 187/20) zum Beispiel nimmt an, die Auflistung stelle eine abschließende Regelung dar – und neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten seien nicht durch den Versicherungsschutz gedeckt.
  • Ein Urteil des Landgerichts München vom 22.10.2020 (Az.: 12 O 5868/20) hingegen urteilt: für einen Versicherungsnehmer, der nicht über Spezialkenntnisse verfügt, seien alle im Infektionsschutzgesetz gelisteten Krankheiten versichert (und nicht nur jene, die der Versicherer in seinem Vertragswerk aufgelistet hat).

Vernachlässigen die Gerichte ihre Beweispflicht?

Nun gesteht Seitz zwar zu, dass verschiedene Auffassungen „das tägliche Brot der Juristen, also auch der Gerichte“ seien. Nur: Der wichtigste Schritt der Beweisaufnahme wurde aus der Sicht von Seitz nicht getan. Denn die Versicherungsnehmer – zum Beispiel Gastronomen – wurden nicht gefragt, wie sie die beanstandete Klausel verstehen. Die vom BGH geforderte Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers kommt in der Urteilsfindung nur als Unterstellung vor.

Wenn nun aber schon die Experten derart konträr über die Auslegung einer Liste urteilen, ist zu erwarten: Die Befragung der Versicherungsnehmer würde die Intransparenz der beanstandeten Abschnitte umso deutlicher herausstellen – und damit zeigen, dass die zugrundeliegenden Klauseln rechtlich unwirksam sind. Weil aber die Intransparenz der Vertragswerke nicht durch Befragung der Versicherungsnehmer ermittelt wird, verhindern Gerichte aus Sicht des Rechtswissenschaftlers, „dass rechtlich unwirksame Klauseln in solchen Allgemeinen Versicherungsbedingungen für unwirksam erklärt werden“. Dies führt laut Seitz „zu einer gestörten Vertragsgerechtigkeit, zu einem Ergebnis, welches der Gesetzgeber durch Schaffung der Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen in §§ 305 ff. BGB verhindern wollte“. Für den Rechtswissenschaftler ist daher die derzeitige Praxis der Rechtsprechung im Versicherungsrecht „problematisch“ und müsse „breit diskutiert werden“.

Versicherer hätten neue Klauseln explizit ausschließen können

Und dabei wäre es für Versicherer leicht gewesen, Eindeutigkeit herzustellen: Sie hätten einfach neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten explizit und eindeutig über eine Klausel ausschließen können. Schon in seiner ersten Kritik an der Leistungsweigerung der Versicherer hat Seitz auf dieses Problem hingewiesen. Dann wäre auch eindeutig gewesen, dass neu ins Infektionsschutzgesetz aufgenommene Krankheiten nicht versichert wären. Und Versicherungsnehmer hätten sich überlegen können, ob sie ein solches lückenhaftes Produkt tatsächlich abschließen wollen oder nicht.

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