Den Lebensversicherern stehen schwierige Zeiten bevor, denn die Coronakrise ist noch nicht durchgestanden. Im Gegenteil: Ein schwächelndes Neugeschäft, dauerhaft niedrige Zinsen und viele Kündigungen könnten ihre Situationen weiter verschärfen und einige Anbieter in Existenznot bringen. Zu dieser Einschätzung gelangt der Aachener Analyst Carsten Zielke von Zielke Research Consult in seiner „Versicherungsstudie 2020“.

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Versicherer sollen für Beleihung werben

„Das Schlimmste liegt noch vor uns“, zeigt sich Zielke pessimistisch. Er erwartet eine Kündigungswelle, da viele Menschen wie beispielsweise Kulturschaffende flüssige Mittel benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. „Bei vielen Gesellschaften kamen die Vertragsabteilungen mit den Anträgen auf Beitragsfreistellung oder Stundung nicht mehr hinterher“, schreibt er in der Studie.

Eine mögliche Lösung für das Problem haben die Versicherer aber selbst in der Hand, wie Zielke weiter argumentiert. Die Anbieter sollen aktiv dafür werben, dass die Betroffenen ihre Police beleihen statt kündigen, „um so Zinsgewinne und Überschussbeteiligungen des Kunden soweit möglich zu sichern“. Versicherer sollten ihren Kunden zeigen, dass es sich lohne, die Versicherung zu halten.

Nachhaltige Geldanlage als Argument für Kundinnen und Kunden

Dafür eigne sich eine weitere Strategie, so der Analyst: Nachhaltigkeit soll offensiv bei der Anlagepolitik verfolgt und beworben werden. Hierbei empfiehlt Zielke, sich vermehrt an ESG-Kriterien zu orientieren: Kriterien des Umweltschutzes, der sozialen Verantwortung und der Unternehmensführung (Environmental Social Governance).

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Allerdings bemängelt der Experte beim Blick auf nachhaltige Anlagen die fehlende Transparenz seitens der Anbieter. „Alle börsennotierten Unternehmen sind gemäß europäischer CSR-Richtlinie seit 2018 verpflichtet, sein Engagement in Bezug auf Nachhaltigkeit, sozialer Verantwortung und Diversität offenzulegen. Leider bleiben die Berichte oft unkonkret“, heißt es im Pressetext zur Studie.

Kapitalanlage: Mehr Aktien sind gefragt

Ein weiteres Problem ist für die deutschen Lebensversicherer noch existentieller: der Niedrigzins. Noch immer sind die Produkte deutschen Lebensversicherer im betrieblichen und privaten Geschäft stark vom Zins abhängig, weil teils mit hohen Garantien versehen. Hier schreibt der Gesetzgeber vor, dass große Teile in festverzinsliche Papiere -meist Staatsanleihen- investiert sein müssen. Papiere, die heute kaum noch was einbringen.

"Negativzinsen sind das neue Normalmaß"

Die Zinsen werden aber schon deshalb dauerhaft im Keller bleiben, weil die EU-Staaten Schulden machen mussten, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Coronakrise abzufedern. Zielke schreibt: "Die massive Verschuldung der Euroländer heißt nichts Gutes für die Lebensversicherer. Der politische Druck wird so hoch sein, dass die Europäische Zentralbank wohl kaum geneigt sein dürfte, die Zinsen zu erhöhen. Negativzinsen sind das neue Normalmaß."

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Für Lebensversicherer mit Garantiegeschäft sei diese Situation nur zu meistern, "indem man die Zinsabhängigkeit reduziert, sprich seine Kapitalanlage diversifiziert", schreibt der Experte weiter. Und das heißt vor allem: mehr in Aktien gehen. Nur sie würden eine laufende Verzinsung erlauben, die über den Garantiepflichten liege.

Ein internationaler Vergleich zeige aber, dass speziell die Abhängigkeit der deutschen Lebensversicherer vom Zins noch immer sehr hoch sei. Während zum Beispiel in Österreich die Versicherer 15 Prozent des Anlagekapitals in Aktien investiert haben, waren es in Deutschland 2019 nur 5,2 Prozent. „Hätten die deutschen Versicherer ähnlich wie die Österreicher gehandelt, hätten sie heute keine Probleme, ihre Garantieversprechen einzuhalten“, so die These Zielkes.

Viel Storno

Viele Kündigungen waren für deutsche Versicherer aber bereits vor Corona ein Problem. Der Mathematiker verweist auf eine Statistik der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Demnach standen 2018 Rückkäufen in der kapitalbildenden Lebensversicherung von rund 7 Milliarden Euro Versicherungssumme reguläre Abläufe von 25,3 Milliarden Euro gegenüber.

Gekündigte Verträge stehen folglich in einem Missverhältnis zur Zahl jener Policen, die bis zum Vertragsablauf durchgehalten wurden. Bei den Renten-Policen ist das Verhältnis noch ungünstiger: 9,6 Milliarden Euro versicherte Summe wurden von Kundinnen und Kunden vorzeitig aufgelöst, nur rund 6,3 Milliarden sind natürlich abgelaufen.

Das sind die Zahlen vor der Coronakrise: Und diese sind schon bedenklich. Nun könnte die Pandemie zu vermehrten Kündigungen und einem dauerhaften Wirtschaftseinbruch führen. Verdoppelt sich die Zahl der aufgelösten Verträge, stünden Beitragseinnahmen von rund 90 Milliarden Euro bereits einem kurzfristigen Liquiditäts-Bedarf von 16 Milliarden gegenüber.

Hier bliebe aber einzuwenden, dass viel Storno den Versicherern mittelfristig sogar nützen könnte: Sollten sich die betroffenen Kundinnen und Kunden von hochverzinsten Altverträgen trennen, deren Garantien zum jetzigen Zeitpunkt schwer für die Gesellschaften zu erwirtschaften sind.

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Zinszusatzreserve droht zu explodieren

Infolge der Entwicklungen müssen deutsche Versicherer auch weit mehr Geld ihrem Finanzpuffer für langjährige Garantien zuführen: der Zinszusatzreserve (ZZR). Bereits 2020 könnten hier 15,3 Milliarden Euro zusätzliche Rücklagen gebildet werden müssen, 2021 weitere 14,1 Milliarden, warnt Zielke. Und bereits 2024 sei zu erwarten, dass die stillen Reserven aufgebraucht seien: Die Versicherer sind gezwungen, ihr Tafelsilber zu verscherbeln. Bis dahin seien 75 Milliarden zusätzliche Euro der Reserve zuzuführen.

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