Versicherungsbote: In 1995 wurde die Pflegeversicherung als zusätzliche Säule der gesetzlichen Sozialversicherung eingeführt. Laut Ihrer Studie für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung aber gewährleistet aktuell die Pflegeversicherung nicht mehr das damalige Ziel: Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko abzusichern. Welche Gründe sehen Sie für diese negative Einschätzung?

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Dominik Domhoff: Primär zeigt sich dieses wohl bei den Entgelten für die stationäre Versorgung: Unmittelbar nach Einführung der Pflegeversicherung lagen die Eigenanteile zu den pflegebedingten Aufwendungen noch bei umgerechnet unter 100 Euro pro Monat. Durch eine vollständig ausgebliebene Leistungsanpassung in der Pflegeversicherung zwischen 1995 und 2008 und einer seitdem fortgetragenen Deckungslücke zwischen Pflegesätzen und Leistungen stieg der durchschnittliche Eigenanteil nur für die pflegebedingten Aufwendungen schon auf 662 Euro pro Monat im Jahr 2019. In Summe mit den ebenfalls privat zu tragenden Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie für Investitionskosten ergeben sich dann durchschnittlich knapp unter 2000 Euro pro Monat Gesamt-Zuzahlung. Dass diese Belastung für viele Personen – insbesondere bei längerer Pflege – zu einem Vermögensverzehr und danach sogar zu Armut führen kann, liegt nahe.

In ihrer Studie beziehen Sie sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 (Az. 1 BvR 2014/95). In diesem Urteil wurde eine „ausgewogene Lastenverteilung“ als normativer Maßstab für das duale Versicherungssystem in der Pflegeversicherung vorgegeben. Sie aber kritisieren: Dieser Lastenausgleich zwischen der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) und der Privaten Pflegepflichtversicherung (PPV) werde „nicht realisiert“. Stattdessen trage die SPV eine größere Last als die PPV. Können Sie uns auch diesen Vorwurf mit Argumenten untermauern?

Pflegeversicherung: Ohne Reform werden die Eigenanteile enorm steigenPflegeversicherung: Ohne Reform werden die Eigenanteile enorm steigenDominik Domhoff ist Pflegewissenschaftler am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Dresden.Starke Selektionseffekte zu Gunsten der privaten Kranken- und Pflegeversicherung sind keine neue Erkenntnis. In unserer Studie beobachteten wir etwa, dass die Versicherten in der PPV nahezu durchgängig ein doppelt so hohes Einkommen aufweisen als diejenigen, die in der SPV versichert sind. Zugleich weisen die Versicherten in der PPV aber auch deutlich günstigere pflegebezogene Risiken auf. Bei gleichen Leistungsansprüchen ergeben sich hierdurch in der PPV Leistungsausgaben zwischen 50 Prozent und 60 Prozent im Vergleich zur SPV. Dementsprechend liegen dann auch die Versicherungsprämien deutlich unter den Beiträgen in der SPV. Es besteht somit ein erheblicher finanzieller Anreiz, in die PPV zu wechseln. So können sich bestimmte Personenkreise systematisch dem Solidarsystem in der Pflegepflichtversicherung entziehen – und für die SPV führt dies zum Verlust der stärkeren Beitragszahler.

Die schon angesprochenen steigenden Eigenanteile – besonders für die stationäre Pflege – werden zunehmend als individuelles Armutsrisiko wahrgenommen. Dass dies zukünftig auf immer mehr Menschen zutreffen wird, ist aufgrund eines zunehmenden Pflegebedarfs zu erwarten. So erreicht die Anzahl der Pflegebedürftigen zum Beispiel laut Vorausberechnung erst im Jahr 2053 einen Maximalwert: Die Anzahl der Pflegebedürftigen in der Sozialen Pflegeversicherung steigt bis dahin um 48 Prozent, die Anzahl der Pflegebedürftigen in der Privaten Pflichtversicherung sogar um 125 Prozent. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Eigenanteile aus, falls keine Reformen stattfinden?

Sollten keinerlei Reformen der Vergütung der stationären Versorgungen stattfinden, werden wir einen enormen Anstieg der einrichtungseinheitlichen Eigenanteile (EEE) erleben. In Berechnungen für die DAK Gesundheit haben wir herausgefunden, dass der EEE allein bereits im Jahr 2045 bei fast 2000 Euro pro Monat läge, sofern die Kosten für die stationäre Pflege durch Erhöhung des Personaleinsatzes und bessere Vergütung – wie zu erwarten ist – in den nächsten Jahren um 35 Prozent steigen. Und dabei ist bereits ein deutlicher Anstieg des allgemeinen Beitragssatzes zu Pflegeversicherung inbegriffen. In Anbetracht der derzeitigen Ausgangslage erscheint eine solche Annahme auch keineswegs überhöht.

Und welche Auswirkung auf Beitragssätze für PPV- und SPV-Versicherte haben eine alternde Gesellschaft und eine zunehmende Zahl an Pflegebedürftigen, falls Reformen ausbleiben?

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Auch die Beitragssätze in der SPV werden unter der jetzigen Logik ansteigen – da sind sich alle einig. Eine steigende Anzahl an Leistungsempfangenden muss von einer geringer werden Anzahl an Erwerbstätigen getragen werden. Bis zum Jahr 2060 ist daher ein demographisch bedingter Anstieg um 2,2 Beitragssatzpunkte zu erwarten, also ein Anstieg, der auch dann passiert, wenn nichts weiter im System verändert wird.

Durch Wegfall der PPV entstehen keine Einbußen...

Versicherungsbote: Sie plädieren für ein Zusammenführen der privaten und der gesetzlichen Versicherung in eine Pflegebürgervollversicherung. Welche Schritte sind für eine solche Reform notwendig?

Dominik Domhoff: In Bezug auf eine Bürgerversicherung in der Krankenversicherung herrscht Uneinigkeit darüber, wie eine solche Zusammenlegung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung genau gestaltet werden könnte. Dies liegt zum einen an unterschiedlichen Leistungsansprüchen in den beiden Versicherungszweigen. Hierdurch ist eine einfache Fusion der Versicherungsverhältnisse nicht möglich. Zusätzlich sind der Umgang mit dem Bestand in der privaten Versicherung und den vorhandenen Rücklagen besondere Streitpunkte. In der Pflegepflichtversicherung ist das deutlich einfacher: Da die Leistungsansprüche in SPV und PPV identisch sind, würden für die Leistungserbringenden keine Einbußen durch einen möglichen Wegfall der PPV einhergehen.

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Welche Vorteile für Pflegebedürftige hätte eine Pflegebürgervollversicherung gegenüber dem derzeitigen Status Quo? Und welche Nachteile drohen?

Für die Pflegebedürftige in stationärer Versorgung ergibt sich bei Einführung einer Vollversicherung unmittelbar eine große finanzielle Entlastung durch den Wegfall des EEE. Profitieren können auch Pflegebedürftige im ambulanten Sektor, bei denen derzeit die Sachleistungen zur Sicherstellung der Pflege nicht ausreichen. Bei welchem Anteil von Personen und in welchem Umfang dies zutrifft, ist jedoch umstritten. Wir gehen hier von durchschnittlich 150 Euro bei den Personen aus, die ausschließlich und vollständig Pflegesachleistungen erhalten. Diese machen jedoch weniger als 10 Prozent aller ambulant versorgten Pflegebedürftigen aus. Die vollständige Abschaffung der Eigenanteile ist auch einer der Diskussionspunkte einer Vollversicherung. Es besteht die Befürchtung, dass hierdurch Leistungen häufiger in Anspruch genommen würden als dies bedarfsgerecht wäre und somit ungerechtfertigte Kosten entstünden. Dem könnte allerdings mit einer individuellen Leistungszumessung und einem anschließenden Case Management vorgebeugt werden.

…und was ist die Idee hinter einem Sockel-Spitze-Tausch?

Der Sockel-Spitze-Tausch zielt auf eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu einem bedarfsorientierten Leistungssystem – so wie es die Krankenversicherung vormacht. Anstatt die Eigenanteile zu den pflegebedingten Aufwendungen allerdings komplett abzuschaffen, würde hier ein bestimmter Betrag als Eigenanteilssockel festgeschrieben. Damit werden die privaten Zuzahlungen bei Pflegebedürftigkeit kalkulier- und somit planbar. Steigerungen bei den Pflegekosten würden somit nicht an die Pflegebedürftigen weitergegeben, sondern von der Pflegeversicherung gedeckt werden. Die steigenden Kosten trägt dann also die Versichertengemeinschaft, nicht mehr der einzelne Pflegebedürftige.

Wie würde sich die Einführung einer Pflegebürgervollversicherung auf den Beitrag der Versicherten und den Beitragszuschuss der Arbeitgeber auswirken?

Die Wirkungen der einzelnen Elemente sind komplex und stehen auch in wechselseitiger Abhängigkeit. Kurz gesagt: sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mit höherem Verdienst und deren Arbeitgeber könnten höhere Beiträge erwarten. Bei den Privatversicherten zeigt sich so unabhängig vom Einkommen eine höhere Belastung von durchschnittlich etwa 530 Euro im Jahr – bedingt durch die derzeit außerordentlich geringen Prämien. Ebenfalls würden bei Arbeitnehmer auch Einkünfte aus anderen Quellen als dem Gehalt beitragspflichtig werden. Von stabileren Beitragssätzen würden dabei Personen profitieren, die ein Einkommen unterhalb der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze haben – und auch deren Arbeitgeber. Letztlich müssen jedoch höhere Sozialleistungen immer durch höhere Beitragseinnahmen gedeckt werden. Eine Bürgerversicherung würde dies durch Verminderung horizontaler und vertikaler Ungerechtigkeiten im jetzigen System umsetzen.

Eine Vollversicherung bedeutet keine Abschaffung privater Zusatzversicherungen

Versicherungsbote: Wäre es auch möglich, eine Vollversicherung in der Sozialen Pflegeversicherung ohne zeitgleiche Einführung einer Bürgerversicherung umzusetzen – wäre also Vollkasko-Schutz ohne Zusammenführung von PPV und SPV möglich? Und mit welchen finanziellen Auswirkungen?

Dominik Domhoff: Möglich ist das sicherlich. Laut unseren Berechnungen würde mit diesem Modell jedoch ein Beitragssatz von 6 Prozent im Jahr 2060 einhergehen – ohne die notwendigen Steigerungen der Personalressourcen in der Pflege und einer besseren Entlohnung der Pflegekräfte. Mit den zu erwartenden Kosten scheint eine solche Umsetzung daher unwahrscheinlich.

Der „Versicherungsbote“ ist ein Makler-Magazin. Die private Pflegeversicherung ist ein wichtiges Marktsegment für Versicherungen und Vermittler. Ist aus Ihrer Sicht das Vermittler-Geschäft mit der privaten Pflegeversicherung nicht mehr zeitgemäß? Oder kann auch bei Ihren Reform-Vorschlägen ein privater Versicherungsmarkt für die Pflege weiterbestehen?

Unsere Reformvorschläge bedeuten keinesfalls, dass für die Pflege der private Versicherungsmarkt abgeschafft wird. Vielmehr wird ein Sockel-Spitze-Tausch erst den Markt für neue Versicherungsprodukte schaffen, die von den Risiken der privaten Zuzahlungen entlasten. Ein kalkulierbarer und bekannter Eigenanteil kann auch versichert werden – jenseits der wenig erfolgreichen Pflegetagegeldprodukte. Aber auch eine Vollversicherung bedeutet keine Abschaffung privater Zusatzversicherungen. Produkte, die im Falle einer Pflegebedürftigkeit weitere Entlastung schaffen, sind durchaus denkbar.

Wie stehen aus Ihrer Sicht die politischen Zeichen, eine Pflegebürgervollversicherung tatsächlich umzusetzen? Sehen Sie hierfür realistische Chancen?

Es besteht sicherlich ein Konsens darüber, dass es einer Finanzreform innerhalb der Pflegepflichtversicherung bedarf. Verschiedene Elemente dazu wurden bereits vorgeschlagen, sodass durchaus Handlungsoptionen existieren. Die Umsetzung einer Pflegebürgervollversicherung von heute auf morgen ist sicherlich wenig realistisch. Eine Festschreibung der maximalen Eigenanteile im Sinne eines Socke-Spitze-Tausches wäre aber auch kurzfristig umsetzbar. Auf Einnahmeseite ist die Erhöhung der Steuerzuschüsse zur SPV eine verhältnismäßig einfach umzusetzende Entlastung. Inwiefern eine Art von Finanzausgleich zwischen PPV und SPV in der nächsten Zeit diskutiert werden wird, vermag ich nicht einzuschätzen, da in der derzeitigen Bundesregierung zumindest eine Bürgerversicherung nicht mehrheitsfähig ist.

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Die Fragen für den Versicherungsboten stellte Sven Wenig

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