Wie groß sind Fehlanreize durch das sogenannte Fallpauschalen-System, Daten von Patientinnen und Patienten zu manipulieren, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten? Diese Frage stellt sich erneut angesichts eines Vorgangs in Sachsen. Wie das Springer-Magazin Business Insider Deutschland berichtet, hat in dem Bundesland die Kassenärztliche Vereinigung Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, Diagnosen zu ändern - um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten?

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Diagnosen zu unspezifisch?

Konkret geht es darum, dass Krankenkassen für die Behandlung eines Patienten einen festgelegten Betrag zugewiesen bekommen: die Fallpauschalen. Bei bestimmten Krankheiten können die Kassen besonders hohe Kosten aus dem staatlichen Gesundheitsfonds geltend machen: zum Beispiel chronische Leiden wie Diabetes. Bei anderen Diagnosen hingegen wird so wenig bezahlt, dass die Kosten kaum oder gar nicht zu decken sind. Im Wesentlichen geht das Fallpauschalen-System auf eine Gesetzesreform unter Bundeskanzler Gerhard Schröder aus dem Jahr 2004 zurück.

Hier besteht der Verdacht, die AOK wolle Ärztinnen und Ärzte derart manipulieren, dass sie bevorzugt kostenintensive Diagnosen stellen. Laut Business Insider bezahle die AOK beispielsweise die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen (KV Sachsen), damit sie Ärzte zu einer Änderung der Diagnosekodierung auffordere. Demnach bemängle die Ärztevereinigung, dass die Diagnose der Mediziner „zu unspezifisch“ sei - und Krankheiten zu allgemein kodiert.

Business Insider nennt ein Beispiel: Trage ein Mediziner bei einer Patientenabrechnung die Ziffer „I25.9“ ein, bedeute dies eine „nicht näher bezeichnete chronische ischämische Herzkrankheit“. Wenn hingegen die I25.5 eingetragen werde, bezeichne dies eine „Ischämische Kardiomyopathie“. Beide werden unterschiedlich hoch vergütet.

Mahnung zu exakterer Codierung?

Zwar wäre die Forderung nach mehr Genauigkeit verständlich. Aber in dem Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung werden sehr konkrete Diagnosevorschläge gemacht: mit der Aufforderung, Diagnosen zu korrigieren. Und zwar mit Patientenname, Geburtsdatum, Versichertennummer etc.

Der Verdacht liege hier nahe, dass nachträglich Diagnosen manipuliert werden sollen, berichtet Business Insider - zum Vorteil der Krankenkasse. Ein betroffener Arzt, der anonym bleiben will, kommentiert gegenüber dem Blatt: „Ich empfinde dies als einen eklatanten Eingriff in das hohe Gut der ärztlichen Freiheit und sehe diese Schreiben als Nötigung und Aufforderung zum Betrug an“.

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Business Insider hat den Vorstandsvorsitzenden der KV Sachsen mit den Vorwürfen konfrontiert, Klaus Heckemann. Hintergrund der Schreiben sei ein mit der AOK PLUS abgeschlossene Verwaltungsvereinbarung, die aber keinerlei finanzielle Vorteile für die kassenärztliche Vereinigung bedeute, berichtet dieser. Auch sollen die Ärztinnen und Ärzte nicht rückwirkend ihre Diagnose ändern, sondern künftig genauere Diagnosen stellen, verteidigt sich der Funktionär. Es gehe darum, eine exaktere Codierung von den Medizinerinnen und Medizinern einzufordern - das sei auch rechtskonform.

Fehlanreize durch Morbi-RSA

Neu sind derartige Manipulations-Vorwürfe nicht. Die Krankenkassen sehen sich einem harten Wettbewerb ausgesetzt - und sollen mit niedrigen Zusatzbeiträgen um Kundinnen und Kunden werben. Umso verlockender ist es, mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Auch mit faulen Tricks: Laut einer Hochrechnung, die das Wissenschaftliche Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung Leipzig (WIG2) 2019 im Auftrag der TK erstellt hat, können bei bundesweit 25.000 Ärzten Manipulationen zulasten des Gesundheitssystems angenommen werden. Mit einer hohen Dunkelziffer.

Fehlanreize durch Morbi-RSA

Besondere Fehlanreize schafft hierbei der sogenannte Morbi-RSA. Dieser hat eigentlich einen vernünftigen Grundgedanken: Hat eine Krankenkasse viele alte und kranke Patientinnen und Patienten versichert, die statistisch mehr Geld kosten, soll ihr das im Wettbewerb keinen Nachteil bedeuten. Seit 2009 werden entsprechend 80 Krankheiten der Kassen mit pauschalen Zahlungen vergütet. Ein Krankheiten-Katalog führt weitere 192 hierarchisierte Morbiditätsgruppen (HMG) als Grundlage für Zuweisungen auf.

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Leiden Patienten hingegen unter einer Krankheit, die nicht für den Morbi-RSA relevant ist, aber dennoch hohe Kosten erzeugt, droht eine finanzielle Unterdeckung der betroffenen Krankenkassen. Speziell Notfälle werden hierbei vergleichsweise schlecht vergütet. So begünstigt das Abrechnungssystem, dass Patientinnen und Patienten auf dem Papier tatsächlich kränker gemacht werden, als sie tatsächlich sind.

Gesetzesreform soll Fehlanreize minimieren

Der Gesetzgeber hat immerhin eine Reform angeschoben, um derartige Fehlanreize zu minimieren: das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG). Statt der bisher 80 Krankheiten, die bei den Zuteilungen aus dem Morbi-RSA berücksichtigt wurden, sollen im neuen Krankheitsvollmodell nun 300 Diagnosen aufgeführt werden. Allerdings erhalten Ärztinnen und Ärzte weiterhin diagnosebezogene Vergütungen im Rahmen von Hausarzt- und Selektivverträgen. Kritiker haben deshalb Zweifel, ob die Neuregelung wirklich die Situation verbessern wird. Zudem soll eine Vertragstransparenzstelle geschaffen werden, die alle Selektivverträge zentral erfasst: inklusive Hausarzt- und Versorgungsverträgen.

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