Anmerkung Redaktion: Dies ist eine stark erweiterte Version des vorab veröffentlichten Interviews aus dem Versicherungsbote Fachmagazin 01/2019. Wir veröffentlichen es in dieser Version erneut, weil es einige zusätzliche Themen abdeckt, die in der stark gekürzten Version nicht berücksichtigt werden konnten.

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Versicherungsbote: „Gesetzliche Krankenversicherer oft besser als private“, so lautete Ende Dezember eine Schlagzeile, die sich auf eine viel beachtete Studie aus Ihrem Hause bezog. Das klang recht reißerisch. Können Sie das Ergebnis der Studie noch einmal kurz zusammenfassen?

Claus-Dieter Gorr: Das Ergebnis zeigt eine Spreizung im Leistungsgefüge der jeweils leistungsstärksten Tarife aller 32 PKV-Versicherer von über 200 Prozent. Von 103 definierten Mindestleistungskriterien, also den Mindeststandards eines Krankenversicherungsschutzes, hat die GKV additiv 100 Leistungskriterien erfüllt, der leistungsstärkste PKV-Tarif 99, der leistungsschwächste 32.
In den Vertragsbedingungen der PKV-Tarife fehlen – trotz teilweise vorhandener Mehrleistungen gegenüber der GKV – auch grundsätzliche Leistungen, die die GKV bereithält und die man zu recht bei Krankheit von einer Krankenversicherung generell erwarten darf.

„Etliche private Krankenversicherungsunternehmen erfüllen selbst in ihren leistungsstärksten Tarifen nicht die definierten Mindestkriterien“, so ein Ergebnis Ihrer Studie. Auf welche Lücken in den PKV-Tarifen sind Sie gestoßen, die für Privatversicherte besonders brisant sein können? Können Sie Beispiele nennen?

Die gravierendsten Deckungslücken gibt es im Bereich der Anschlussheilbehandlung, Reha und Kur, der häuslichen Krankenpflege und Palliativversorgung, der Psychotherapie, Transporte, Prävention und Familienplanung (das heißt: nicht rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch, Haushaltshilfe, Sozialpädiatrie, Kindernachversicherung). Mit Ausnahme der Defizite bei der Familienplanung alles Leistungskriterien, die in der Regel kostenintensiv sind und erst mit zunehmender Vertragsdauer in Anspruch genommen werden. Also meistens dann, wenn eine Korrektur nicht mehr möglich ist.

Niedrigzins und Alterung der Gesellschaft belasten auch die Privatversicherer, ebenso die Debatten über steigende Prämien. Das Neugeschäft schwächelt seit Jahren. Ist die PKV-Branche ausreichend zukunftsfähig? Wenn nein: Was müsste sich ändern?

Die PKV-Branche per se ist aus unserer Sicht definitiv nicht zukunftsfähig. Einige einzelne PKV-Unternehmen könnten es sein, wenn Sie detaillierte und verständliche Informationen über die Zusammenhänge und Auswirkungen ihrer langfristigen Unternehmenspolitik, Kalkulationsgrundlagen, verbindlichen Leistungsinhalte und -ausschlüsse, oder gar der unternehmenseigenen Leistungspolitik öffentlich zugänglich machen würden. Die PKV-Unternehmen sind diesbezüglich weitgehend eine Blackbox. Und daher hat das saldierte Neugeschäft seit mehreren Jahren in der Branche insgesamt eine stabile Negativbilanz. Vermittler und potentielle Endkunden sind breitflächig verunsichert, weil es seitens der Unternehmen keine ausreichend verständlichen Informationen zu vertraglich garantierten Leistungen, unternehmensindividuellen Risiken – und Leistungspolitik sowie zu auslösenden Faktoren systemimmanenter Beitragssteigerungen gibt.

Früher wurde vertrieblich seitens der Versicherungsbranche meist der Beitragsvorteil gegenüber der GKV in den Vordergrund gestellt, heute in der Regel der schnelle Termin beim Arzt oder der Zugang zum Spezialisten. Dass allerdings im Nachhinein die Erstattungen solcher – naturgemäß meist deutlich höheren Rechnungen der Spezialisten – durch Diskussionen über Angemessenheit, sogenannte Übermaßbehandlung oder unbegründete medizinische Notwendigkeit im Abrechnungsprozess zu teilweise erheblichen prozentualen Kürzungen führen können, sorgt – gepaart mit Beitragsanpassungen – für Missstimmungen und enttäuschte Erwartungshaltungen bei Versicherten und Vermittlern. Und das schadet der PKV insgesamt massiv.

Wenn die PKV-Anbieter Mindestkriterien nicht erfüllen, müsste der Gesetzgeber den Privatversicherern dann einen strengeren Mindestkatalog vorschreiben? Wie könnte ein solcher aussehen?

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Nein, der Gesetzgeber sollte eher bei den Vermittlern hinschauen. Bis heute erreichen uns täglich Anrufe von PKV-Versicherten, die sich darüber beschweren, dass sie von ihren Vermittlern bei Abschluss nicht ausreichend aufgeklärt worden sind und jetzt auf einem Großteil relevanter Leistungsausgaben sitzen bleiben. Andere bemängeln das pauschale PKV-Marketing, das eine sorgenfreie Versorgung suggeriert.
Grundsätzlich sehe ich zwei Lösungsszenarien: Entweder verschärft der Gesetzgeber massiv die Beratungs-, Informations- und Dokumentationspflichten der Vermittler, oder er reformiert die PKV grundlegend. Wahrscheinlich wären zum politischen Überleben der substitutiven Krankenversicherung beide Maßnahmen parallel erforderlich.

"Sachlich betrachtet haben wohl die meisten PKV-Unternehmen kein Vertrauen mehr in die Zukunft ."

Versicherungsbote: Entsprechend der Ergebnisse Ihrer Studie könnte man schlussfolgern, dass eine Zweiklassen-Medizin nicht (nur) zwischen PKV und GKV verläuft, sondern vor allem zwischen Privatversicherten. Haben Sie beobachten können, dass im PKV-System manche Gruppen besser gestellt sind als andere?

Claus-Dieter Gorr: Nein, es ist fast immer an der Kompetenz und Beratungsleistung des Vermittlers festzumachen. Wenn man sich das Ergebnis der neuesten ASS-Compact-Umfage zu den beliebtesten PKV-Unternehmen der Makler anschaut, dann sind auf den ersten 10 Plätzen sowohl Unternehmen mit leistungsstarken, aber auch erheblich leistungsschwachen Tarifen vertreten. Das zeigt, dass die Auswahlparameter der Vermittler nicht allein an den Leistungsinhalten ausgerichtet sein können.

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Wenn der Vermittler einer der Schwachpunkte in der Beratungskette ist, dann muss man den Maklern vielleicht generell Produkte mit einem Mindeststandard an die Hand geben. Für die Krankenversicherer wäre das ja auch die Möglichkeit etwaigen politischen Eingriffen zuvorzukommen. Warum tun sich die Unternehmen damit so schwer?

Das ist sehr unterschiedlich gelagert, und die Bandbreite reicht von purem Unwillen über die der Auffassung, dass leistungsschwache Tarife ja sowohl verkauft als auch gekauft werden, weil die Kunden wüssten was sie kauften bzw. nicht kauften, bis hin zu vermeintlich mangelnden Kapazitäten. Sachlich betrachtet haben aber wohl die meisten PKV-Unternehmen kein Vertrauen mehr in die Zukunft der substitutiven Krankenversicherung. Jeder neue Tarif müsste mit hohem Aufwand am Markt positioniert und Kollektive umfänglich aufgebaut werden. Das traut man wohl den Vertriebswegen nicht mehr zu.

In vielen anderen Sparten werden aktuell die Tarife ganz massiv vereinfacht. Inzwischen gibt es mit Ottonova auch einen Krankenversicherer, der ausschließlich auf den digitalen Vertriebsweg baut. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Ich war selbst von 2016 bis 2018 an einem digitalen PKV-Projekt beteiligt und musste feststellen, dass die Zeit für ein solch erklärungsbedürftiges Produkt, wie es die Vollkostenversicherung ist, noch lange nicht reif ist. Bei dem derzeitigen Kenntnisstand der Vermittler und potentiellen Endkunden zu den grundsätzlichen systemrelevanten Unterschieden und Funktionsweisen sowie den Auswirkungen der unterschiedlichsten Leistungsportfolien würde es noch Jahre dauern, bis der digitale Vertrieb der PKV funktionieren könnte. Die Branche hat es einfach über Jahre hinweg versäumt dafür zu sorgen, dass die PKV ein Nachfrageprodukt ist. Das Produkt muss kompetent und sehr aufwendig und komplex erklärt werden, damit der potentielle Kunde auch versteht, was er da kauft.

Wie könnte der als sehr umfangreich geltende KV-Vertrieb so vereinfacht werden, dass die Produkte flächendeckend digitalisiert werden?

Transparente verständliche Leistungskriterien und Erstattungsprozesse wären notwendig. Heute haben wir in der Regel mindestens drei aufeinander aufbauende Regelwerke, die die tariflichen Leistungen eines einzigen Tarifs beschreiben. In Teil I sind in der Regel die Musterbedingungen des PKV-Verbandes zugrunde gelegt, in Teil II sind dann meist die Abweichungen für das gesamte Tarifwerk des Versicherers zu finden, und in Teil III, den eigentlichen Tarifbedingungen, dann die – möglicherweise wieder stark abweichenden – tarifindividuellen Leistungsbeschreibungen. Das ist selbst für professionelle Analysten eine echte Herausforderung. Hinzu kommt das größer werdende Problem der unternehmensindividuellen Leistungsprozesse. Das ist aktuell eine oftmals personen- und tagesformabhängige Manufaktur vom grünen Würfeltisch aus.

Im Bereich der Sachversicherung sind sogenannte Innovationsklauseln inzwischen Standard. Warum wäre dieser Leistungspunkt auch für die PKV vernünftig? Gibt es ggf. andere Optionen, die sich die Krankenversicherer von anderen Sparten abschauen könnten?

Ja, aber hier muss der Gesetzgeber den formalen Rahmen schaffen. Da sich die Mitgliedsunternehmen innerhalb des PKV-Verbandes aber nicht einig sind, wird es hier wohl zu keinen Innovationen kommen. PremiumCircle hatte Anfang 2019 einen Vorstandsworkshop initiiert, um mit den willigen Unternehmen ein Arbeitspapier für eine moderne PKV als Diskussionsgrundlage für die Politik zu entwickeln. Der PKV-Verband hat hier im Hintergrund offenbar kräftig dagegen gearbeitet, sodass es mangels Teilnahme der mitgliederstarken PKV-Gesellschaften zu keinem relevanten Ergebnis kommen konnte. Diese Chance ist jetzt erstmal vertan. Jetzt muss der PKV-Verband liefern, sonst geht es der substitutiven Krankenversicherung bald wie der DDR – die Geschichte schaltet sie einfach ab.

"Es bedarf einer grundsätzlichen Neuausrichtung!"

Versicherungsbote: Wir wissen von einigen Krankenkassen-Funktionären, dass sie sich mehr Freiheiten wünschen: etwa mit dem Blick auf den Kontrahierungszwang und den vorgeschriebenen Leistungen. Wäre aus Ihrer Sicht eine Option, hier die gesetzlichen Regeln zu lockern? Wo würden mehr Freiheiten helfen bzw. schaden? Und wie positionieren Sie sich zur Idee einer Bürgerversicherung?

Claus-Dieter Gorr: Das deutsche Gesundheitssystem ist allgemein gut anerkannt und genießt eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung: exzellente Infrastruktur, hohe Versorgungsqualität, gute Ausbildung von Leistungserbringern. Eine frühe Nutzenbewertung sowie hohe Investitionen, beispielsweise in Forschungseinrichtungen und Qualitätszentren, steigern die Attraktivität des Systems und stärken dieses nachhaltig.

In unserem 2014 veröffentlichten Faktencheck zum Gesundheits- und Versicherungssystem in Deutschland haben wir aber auch bereits eklatante Schwächen herausgearbeitet: Ärztemangel in ländlichen Regionen, mittelmäßige Qualität von Leistungen bei vergleichsweise hohen Kosten und der Investitionsstau bei Krankenhäusern sind nur einzelne Beispiele.

Es existiert kein gemeinsames Zielbild für das deutsche Gesundheitssystem. Dieses ist jedoch die essenzielle Voraussetzung für den Erfolg der zukünftigen Entwicklung. Es fehlt eine Strategie für Nachhaltigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit, Eigenverantwortung. Der Leistungskatalog ist nicht transparent und ausdifferenziert und es gibt eine unlogische Zugangssteuerung der Bürger zu GKV und PKV. Im Hinblick auf die intergenerative Gerechtigkeit ist das Gesundheitssystem daher eher als defizitär ausgeprägt anzusehen. Insoweit bedarf es einer grundsätzlichen Neuausrichtung, die auch die Option einer Bürgerversicherung nicht ausschließt.

110 gesetzliche Versicherer gibt es in Deutschland laut GKV-Spitzenverband derzeit. Alle haben sie eine eigene Verwaltung, eigene Sachbearbeiter — und eigene Vorstände. So verdient selbst der Chef mit der niedrigsten Vorstandsvergütung aller Kassen, Dirk Hübner von der Thüringer Betriebskrankenkasse (TBK), noch 120.000 Euro im Jahr. Aus den Reihen der PKV ist immer wieder zu hören, dass mit der Reduzierung der Krankenkassen-Zahl auf einen einstelligen Wert die Ausgabenseite der GKV dramatisch gesenkt werden könnte. Dadurch könnte auch der Beitrag gesenkt oder das Leistungsniveau angehoben werden. Wie stehen Sie zu diesem Ansatz?

Wir haben dazu bislang keine eigene Analyse erstellt, aber Fusionen führen langfristig immer zu mehr Effizienz und auch Kosteneinsparungen. Aber eben auch zu weniger Wettbewerb. Das gleiche würde aber auch für die PKV – allerdings aus anderen Gründen – gelten. Aber, wer so argumentiert, der orientiert sich ohnehin in Richtung der Bürgerversicherung.

Das Kernproblem der GKV sehe ich allerdings an einer anderen systemischen Stelle, nämlich dem grundsätzlichen Vergütungssystem der Ärzte, der reinrassigen Planwirtschaft. Der Arzt bekommt im Vorhinein je Quartal ein Budget über seine Kassenärztliche Vereinigung, das auf dem Prinzip der tatsächlich abgerechneten Krankenscheine des gleichen Vorjahresquartals beruht. In der Folge muss er sehen, dass er im aktuellen Quartal etwa wieder die gleiche Anzahl an Krankenscheinen abrechnet, um im Folgejahr wieder auf das gleiche Budget zu kommen. Also werden mancherorts einfach die Patienten einbestellt, egal wie. Wir haben also kein Gesundheitssystem, sondern ein Krankheitserhaltungssystem, das einen erheblichen Anteil am BIP hat. Das ist das eigentliche Problem.

Sie sind im Vorstand des BVSV; Bundesverband der Sachverständigen für das Versicherungswesen tätig. Der eingetragene Verein hat sich den Verbraucherschutz auf die Fahnen geschrieben. An welchen Schrauben wollen Sie dabei drehen?

Der BVSV hat die Gründerjahre hinter sich und steht jetzt an der Stelle, sich breitflächig zu professionalisieren. Hier werden meine Kollegen von der PremiumCircle Deutschland GmbH und ich dazu beitragen, dass dieser Prozess zeitnah Fahrt aufnimmt. Inhaltlich werden wir die Fachbereichsleitung für BU und PKV übernehmen. Hier wird es für die angeschlossenen Sachverständigen und die Verbraucherzentren Mindeststandards für die PKV- und BU-Produkte geben. Gemeinsam werden wir dafür sorgen, dass der Endverbraucher verständliche und verlässliche Produkte erhält.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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