Zukunfts-Szenario: Teure Pflege, Pflegenotstand


Der demographische Wandel verheißt für die Pflegeversicherung nichts Gutes: Steigt doch die Zahl der Menschen mehr und mehr, die auf Pflege angewiesen sind. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln werden bis 2035 vier Millionen Pflegebedürftige erwartet, was zugleich zu einem massiven Pflegenotstand führen würde (der Versicherungsbote berichtete). Zugleich aber nimmt durch eine alternde Bevölkerung die Zahl der Beitragszahler für die Pflegeversicherung ab.

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Solche Probleme des demographischen Wandels führen auch dazu, dass Pflege "viel teurer“ als jetzt schon wird, wie zu Beginn des Jahres selbst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gegenüber der Bildzeitung äußerte (der Versicherungsbote berichtete). Und im Interview offenbarte Spahn eine gewisse Ratlosigkeit der Politik: Die Beitragssteigerungen zur Pflegekasse nach 2022 würden kaum ausreichen. Spahn forderte „eine Grundsatzdebatte darüber, was danach passiert“.


Diese Debatte wird nun befeuert durch eine aktuelle Studie des Wissenschaftlichen Instituts des Verbands der Privaten Krankenversicherung (WIP). Grundlegende Aussage des Papiers: Hätte die gesetzliche Pflegeversicherung wie ein privater Versicherer agiert und hätte Alterungsrückstellungen gemäß dieser Kalkulation gebildet, hätte sie 435 Milliarden Euro ansparen müssen. Die Studie spricht von einer „impliziten Schuld“ (im Sinne einer „Verschuldung“) der sozialen Pflegeversicherung.

Zwei Finanzierungssysteme treten in den Ring

Freilich: Schon das Design der Studie zeigt, dass sie nicht ohne Eigeninteresse der privaten Versicherer erstellt wurde. Stellt die Studie doch zwei Logiken kontrastierend gegenüber: Eine Finanzierungslogik der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) sowie eine Finanzierungslogik der Privaten Pflegeversicherung (PPV). Das entspricht auch den Gegebenheiten ab 1995 – denn seit durch das Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) die Pflegeversicherung zu einer Pflichtversicherung wurde, sind Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert, Mitglieder privater Krankenkassen hingegen müssen eine private Pflegeversicherung abschließen.

Einen wichtigen Unterschied dieser Systeme arbeitet die Studie als fundamental heraus: Die Finanzierung der SPV erfolgt im Umlageverfahren über einkommensabhängige Beiträge. Das bedeutet: Ausgaben einer Periode werden über Einnahmen derselben Periode gedeckt. Die Finanzierung der privaten Pflegeversicherung hingegen erfolgt im Kapitaldeckungsverfahren und unterliegt unter anderem einer Prämienkalkulation über die Lebensspanne der Versicherten. Deswegen muss von vorn herein bedacht werden: In den Altersjahren sind mehr Menschen auf Pflege angewiesen, Kosten steigen, das Alter erweist sich als teurer Lebensabschnitt für die Pflegeversicherung. Eine kapitalgedeckte Kalkulation versucht, diesen Effekt auszugleichen.

In jüngeren Jahren sind die Prämien eines Versicherten demnach höher als die benötigten Leistungen. Ziel: Überschüsse und damit einen Kapitalstock für Ausgaben des Alters müssen gebildet werden. Im Alter hingegen werden die für einen Versicherten angesammelten Überschüsse im Kapitaldeckungsverfahren aufgelöst, um Prämiendefizite und damit das Missverhältnis aus Prämien und Kosten aufzufangen.

Der Clou der Studie liegt nun darin, dass ein fiktives Pflegesystem simuliert wird, das eine Übertragung privater Kalkulation auf die derzeitige gesetzliche Pflegeversicherung erlaubt: Die Versichertenstruktur der Pflegeversicherung sowie das Risikoprofil der Versicherten wird ebenso durch die Brille privater Anbieter gesehen wie die Notwendigkeit zum Aufbau von Rücklagen und Überschüssen. Auf Grundlage solcher Prämissen wird zum Beispiel errechnet, wie hoch die Prämien hätten sein müssen für verschiedene Altersgruppen über die Jahre hinweg. Auch wird gefragt, in welcher Höhe so genannte Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen hätten gebildet werden müssen. Aus Sicht der Autoren ist eine solche Kalkulationslogik der “Finanzierungslogik der Sozialen Pflegeversicherung“ überlegen.


Umlageverfahren: Nicht einlösbare Leistungsversprechen?


Denn anders als Kapitaldeckungsverfahren im Sinne der privaten Pflegeversicherung würden sich, laut Studie, Umlageverfahren durch ein wesentliches Problem auszeichnen: Sie geben zukünftige Leistungsversprechen, die durch heutige Beitragszahlungen nicht gedeckt sind. Sie verschulden sich also „versteckt“, da sie zukünftige Belastungen nicht durch Aufbau eines Kapitalstocks bedenken. Durch solche Eigenschaften aber wäre ein System mit Umlageverfahren auch weit anfälliger für Strukturverschiebungen innerhalb der Bevölkerung als ein kapitalgedecktes System.

Diese These soll plausibel gemacht werden durch eine beispielhafte Berechnung für das Jahr 1997: Die Kalkulation privater Versicherer wird auf die Versichertenstruktur der gesetzlichen Pflegeversicherung von 1997 angewandt. Das zeitige Jahr soll veranschaulichen: Schon mit Einführung des Pflegeversicherung-Systems 1995 hätten vor allem bereits Pflegebedürftige und pflegenahe Jahrgänge Leistungen erhalten, die durch Beitragseinnahmen nicht gedeckt waren. Wie aber hätte eine notwendige Subventionierung Älterer in 1997 ausgesehen, die diesen Effekt für die gesetzlich Pflegeversicherten ausgleicht, jedoch nach Maßgabe einer kapitalgedeckten Kalkulation? Auch dazu will die Studie Antworten liefern.

Kapitalgedeckte Kalkulation für 1997: Junge zahlen wenig, Ältere sehr viel

Zunächst errechnet die Studie Prämien für den Fall, es hätte damals gar keine Subventionierung und kein Ausgleich zwischen Versicherten verschiedenen Alters stattgefunden. Für Berechnungen werden Faktoren wie die Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen (RfB) und andere Kalkulationsgrößen privater Versicherer bedacht. Demnach hätte laut Berechnung ein 20-Jähriger Startbeiträge in Höhe von 12 Euro monatlich für die Pflegeversicherung entrichten müssen, ein 40-Jähriger Beiträge in Höhe von 20 Euro, ein 45-Jähriger Beiträge in Höhe von 45 Euro. Kohorten der 70- bis 90-Jährigen aber hätten teilweise ein Vielfaches jenes monatlichen Höchstbeitrages bezahlen müssen, bei dem damals nach Maßgabe der Beitragsbemessungsgrenze die Sozialbeiträge für Gutverdienende in der gesetzlichen Pflegeversicherung gedeckelt wurden.

Diese Beitragsbemessungsgrenze, die den maximal zu zahlenden Beitrag für die gesetzliche Pflegeversicherung auch für Gutverdienende definiert, wird in einem zweiten Berechnungsschritt einbezogen. Ist diese Grenze doch auch für die private Pflegeversicherung relevant und dient demnach der Studie als Orientierung. Denn keineswegs können private Versicherer frei kalkulieren. Stattdessen definiert Paragraph 110 Abs. 3 des 11. Sozialgesetzbuchs (SGB XI) auch strenge Bedingungen für private Versicherer mit Bezug auf die Pflegeversicherung. Und diese Bedingungen werden durch Berechnungen des WIP-Instituts einbezogen – denn die Überlegenheit des kapitalgedeckten Systems soll nach Maßgaben aktueller Gesetze aufgezeigt werden.

Ohne Umlagekomponente: 90-Jährige müssten 322 Euro monatlich zahlen

So darf es laut Paragraph 110 SGB XI keine Staffelung der Prämien nach Geschlecht geben, weswegen die Berechnungen auch von „Unisex-Prämien“ ausgehen. Auch legt der Paragraph die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder fest und wird ebenfalls in den Berechnungen bedacht. Zudem: Für Versicherungsnehmer, die über eine Vorversicherungszeit von mindestens fünf Jahren in ihrer privaten Pflegeversicherung oder privaten Krankenversicherung verfügen, darf keine Prämienhöhe festgelegt werden, die den Höchstbeitrag der sozialen Pflegeversicherung übersteigt. Demnach wird ebenfalls die Bemessungsgrenze – in der Studie als Maximalbeitrag bezeichnet – für die Kalkulation privater Versicherer maßgebend und führt zu einem Mischsystem zwischen kapitalgedeckter Kalkulation und Umlageverfahren, da gedeckelte Prämien durch andere Versicherte mitgetragen werden müssen.

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Die Studie nennt für 1997 einen damals zu entrichtenden Maximalbeitrag in Höhe von 53 Euro monatlich – bei diesem Maximalwert waren die Beiträge auch in der privaten Pflegeversicherung gedeckelt. Nach Kalkulation eines privaten Versicherers aber hätte – ohne ausgleichende Berechnung für Versicherte verschiedenen Alters – damals ein 70-Jähriger 80 Euro, ein 80-Jähriger 162 Euro, ein 90-Jähriger gar 322 Euro an Beiträgen pro Monat für die Pflegeversicherung zahlen müssen. Will man diesen Effekt exorbitant hoher Beiträge für Ältere ausgleichen und zumindest auf die Höhe des gedeckelten Maximalbeitrags drücken, muss ein Mischsystem greifen, das eine kapitalgedeckte Kalkulation und ein Umlageverfahren kombiniert (und aktuell in der PPV aufgrund gesetzlicher Vorgaben auch praktiziert wird).

SPV: Implizite Schulden von 435 Milliarden Euro

Studie wirbt für Misch-System

Die Studie aber sieht ein solches Misch-System keineswegs als Problem, sondern legt es sogar nahe. Und es könnte auf eine Art angewandt werden, die Auswege schafft aus der Demographie-Misere. So wäre es möglich, dass junge Versicherte zum einen durch höhere Prämien einen eigenen Kapitalstock fürs Alter aufbauen. Zum anderen könnte ein weiterer Teil dieser (dann freilich noch höheren) Prämien die Prämiendefizite der Älteren ausgleichen und so zu einem umlagefinanzierten Ausgleich führen. Wendet man aber diese Misch-Kalkulation auf die Versichertenstruktur der gesetzlichen Pflegeversicherung in 1997 an, hätten laut Studie alle Versicherten den Maximalbeitrag von 53 Euro zahlen müssen, um Prämien- und Einnahmedefizite durch die älteren Versicherten auszugleichen – angefangen vom 20-Jährigen bis zum 90-Jährigen. Im Grunde hätten Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung demnach von allen Versicherten den Maximalbeitrag der Beitragsbemessungsgrenze für Gutverdiener erfordert.

Ein gangbarer Weg gegenüber dem umlagefinanzierten System? Zumindest problematisiert die Studie diese, für zukünftige Verpflichtungen notwendige, Beitragshöhe für 1997 nicht in ihrer Umsetzbarkeit. Angepriesen wird stattdessen eine Kalkulation, die durch Einbeziehen der Rücklagen zu solchen Beitragshöhen führt. Denn die Rücklagen könnten als eine Art Hebel wirken: Durch diesen wichtigen Bestandteil einer kapitalgedeckten Kalkulation würde es auf Dauer sogar gelingen, nach und nach die Prämien abzusenken und negative Kosteneffekte sowohl durch nicht gedeckte Kosten der Älteren als auch durch demographische Strukturen auszugleichen.

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Denn nach und nach wird ja ein Kapitalstock für den Ausgleich aufgebaut, so dass weniger Mittel für das Umlageverfahren nötig wären. So rechnet die Studie vor, dass auf lange Frist die Durchschnittsprämien eines solchen Mischsystems sinken könnten. Hingegen prognostiziert sie drastische Beitrags-Verteuerungen für das jetzige und umlagefinanzierte Modell der gesetzlichen Pflegeversicherung, verweist hierbei auf eine zweite und ebenfalls aktuell veröffentlichte Studie des WIP-Instituts: Bis 2040 könnte der Beitragssatz zur Pflegeversicherung von aktuell 3,05 Prozent auf 4,1 Prozent oder (im ungünstigsten Falle) sogar auf 7,9 Prozent steigen, wie aktuell u.a. das Handelsblatt berichtet.

Implizite Schulden von 435 Milliarden Euro

Dieses drastische Ansteigen des Beitragssatzes (das Handelsblatt spricht von einer "Zeitbombe für den Sozialstaat") ist laut Studie insbesondere den nicht gebildeten Rücklagen für zukünftige Ausgaben geschuldet. Würde man Kalkulationsgrundlagen der privaten Pflegeversicherung als Prämisse vorgeben, hätte bereits ein enormer Kapitalstock zum Decken zukünftiger Aufgaben aufgebaut werden müssen. So rechnet die Studie mit einer „impliziten Schuld“ von 435 Milliarden Euro – diese Gelder also fehlen gemäß Kalkulation der privaten Pflegeversicherung dem aktuellen umlagefinanzierten System für zukünftige Verpflichtungen.

Freilich: Nicht nur die Umlageverfahren (wie grundlegend für die gesetzliche Pflegeversicherung) haben mit dem demographischen Wandel zu kämpfen. Und wenn die aktuelle Studie aus dem Institut der privaten Versicherer einer gesetzlichen Pflegeversicherung die Zukunftsfähigkeit abspricht, sprach zuvor eine Aufsehen-erregende Studie des Frankfurter Beratungshauses PremiumCircle, durchgeführt im Auftrag der Grünen, just jenen kapitalgedeckten Verfahren die Zukunftsfähigkeit ab – wenngleich mit Bezug auf die private Krankenversicherung.

Das Ergebnis dieser Studie fasste Claus-Dieter Gorr, Geschäftsführer der PremiumCircle Deutschland GmbH, gegenüber dem Versicherungsboten wie folgt zusammen: Die PKV-Branche wäre „per se nicht überlebensfähig“. Denn nicht anders als die gesetzliche Pflegeversicherung kämpfen auch private Krankenversicherer mit dem „Risiko von überproportionalen kassenindividuellen Beitragssteigerungen“ sowie mit Negativbilanzen, die insbesondere für die Zukunft einen düsteren Ausblick bieten.

Im Vergleich privater Versicherer mit der gesetzlichen Krankenversicherung sieht der Experte sogar einen Leistungsvorteil der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gegenüber der privaten Krankenversicherung (PKV). Kalkulationsgrundlagen und Leistungspolitik der privaten Versicherer jedoch erweisen sich hierbei nicht selten als „Black Box“. Wenngleich also die Studie aus dem Haus der privaten Versicherer einen Vorteil kapitalgedeckter Kalkulationsverfahren behauptet, wollen sich viele private Versicherer just bei ihrer Kalkulation lieber nicht in die Karten schauen lassen.

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Wem aber ist nun bei diesem Konflikt beizupflichten, wer steckt tiefer in der Krise – die Umlageverfahren der Sozialversicherung oder die kapitalgedeckten Angebote privater Versicherer? Die Wahrheit könnte nicht in der Mitte, sondern in beiden gegenläufigen Studien liegen: Sowohl die gesetzliche Pflegeversicherung als auch die private Krankenversicherung stehen vor einem Reformbedarf. Und Antworten für die Zukunft, wie eine abnehmende Zahl von Beitragszahlern zunehmende Kranken- und Pflegekosten schultert, sind für die Sozialversicherung als auch die private Krankenversicherung dringend geboten!

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