GKV: Koalitionsvertrag birgt Sprengstoff

Der aktuelle Gesetzentwurf "für eine faire Kassenwahl in der GKV", der am Montag auf Seiten des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) vorgestellt wurde, greift tief. Aber das war für aufmerksame Beobachter der Debatten um die gesetzliche Krankenversicherung zu erwarten. Eine Reform kündigte sich bereits durch den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD verklausuliert an: Man wolle den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) „mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterentwickeln und ihn vor Manipulation schützen“, heißt es dort. Hierbei berief sich das Koalitionspapier auf Gutachten des Expertenbeirats des Bundesversicherungsamtes (BVA). Und ein Sondergutachten hatte mit Datum vom 27. November 2017 unangenehme Fakten "zu den Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs" zu Tage gebracht.

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Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) wurde Anfang 2009 – parallel zum Gesundheitsfonds – eingeführt. Ziel des neu geschaffenen Umverteilungssystems war ein Wettbewerbsausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, damit Kassen nicht durch Versicherte mit kostenintensiven Erkrankungen benachteiligt sind.

Grund für Sorgen: Der "Morbi-RSA"

Der Morbi-RSA wurde eigentlich erschaffen für einen Lastenausgleich zwischen den Kassen: Eine Kasse mit vielen älteren und kranken Versicherten sollte demnach mehr Geld durch Zuteilung aus dem Gesundheitsfonds erhalten als ein Anbieter, der mehr junge und gesunde Menschen versichert. Insbesondere für schwerwiegende oder chronische Erkrankungen mit hohen Folgekosten sollten demzufolge mehr Gelder fließen. Hierfür legte das Bundesversicherungsamt (BVA) die zu berücksichtigenden Krankheiten fest: Seit 2009 wird ein Katalog von 80 Krankheiten mit pauschalen Zahlungen an die Krankenkassen vergütet. Freilich ist die Abrechnung komplex: Der Katalog mit 80 Krankheiten führt zu 192 hierarchisierten Morbiditätsgruppen (HMG) als Grundlage für Zuweisungen, die Kassen aufgrund des Risikoausgleichs erhalten.

Das System freilich offenbarte nach und nach einige Tücken und Fehlanreize, die nicht im Sinne des Gesetzgebers waren. So beauftragte das Bundesministerium für Gesundheit auch Experten damit, Auswirkungen des Umverteilungssystems RSA zu untersuchen. Jene Gutachten, auf die sich der Koalitionsvertrag beruft, sind Ergebnis des Auftrags. Folgen für den Wettbewerb der Kassen, die durch das Sondergutachten sowie durch ein weiteres Gutachten „zu den regionalen Verteilungswirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ diskutiert werden, machen den aktuellen Gesetzentwurf aus dem Hause des Gesundheitsministers verständlicher und werden demnach in Auswahl kurz vorgestellt:

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  • Das aktuelle Modell führt zur Über- als auch Unterdeckungen der Kosten innerhalb verschiedener Personengruppen. Denn Zuweisungen orientieren sich zum einen an den Maßgaben des Morbi-RSA. Zum anderen jedoch orientieren sie sich an so genannten Alters-Geschlechts-Gruppen (AGGs): Jeder Versicherte, der nicht als Auslandsversicherter klassifiziert wird, wird zunächst durch Zuordnung zu einer solchen Gruppe erfasst. Das derzeitige Ausgleich-Modell aber verursacht durch seine Beschaffenheit eine Überdeckung der Gesunden. Zugleich führt das jetzige Modell zu einer Unterdeckung der Kranken, sobald diese ohne RSA-Relevanz bleiben. Der Wettbewerb zwischen Krankenkassen mit verschiedener Versichertenstruktur wird hierdurch bereits verzerrend beeinflusst. Auch schafft das System Fehlanreize, Diagnosen mit RSA-Relevanz zu stellen.
  • Darüber hinaus spielt die Zahl der Diagnosen bei Über- und Unterdeckungen eine Rolle. Beispielhaft genannt sei jener Effekt des Risikostrukturausgleichs: Zwar steigen mit Anzahl der Diagnosen auch die Folgekosten. Durch die Zuwendungen des Risikoausgleichs aber ergibt sich eine unterschiedliche Deckungssituation. Bei bis zu 20 gesicherten Diagnosen sorgen Zuweisungen im Durchschnitt für eine Überdeckung der Ausgaben. Ab 20 Diagnosen hingegen muss eine Unterdeckung festgestellt werden. Grundsätzlich gilt: Die jetzige Situation schafft zusätzliche Fehlanreize, auch auf die Zahl der Diagnosen für einen Versicherten Einfluss zu nehmen im Sinne höherer Zuwendungen an die Kassen.
  • Ein weiteres Problem: Die jetzige Praxis schafft regionale Unterschiede der Deckungssituation. So führt das Gutachten „zu den regionalen Verteilungswirkungen" mit Datum vom 28. Juni 2018 aus: Versicherte in großstädtischen Zentren sind mit durchschnittlich 50 Euro pro Kopf im Jahr erheblich unterdeckt. Demgegenüber sind Versicherte außerhalb der Stadtregionen im Durchschnitt überdeckt. Auch dieser Effekt führt zu Verzerrungen im Wettbewerb zwischen Krankenkassen. Das trifft insbesondere dann zu, wenn Kassen schwerpunktmäßig in verschiedenen Regionen tätig sind.
  • Ein besonderes Problem des Risikostrukturausgleich sind jene Manipulationen, die auch der Koalitionsvertrag erwähnt: Über- und Unterdeckungen verleiten Kassen zur Schummelei bei Diagnosen, sogar zu Betrug. Ist es doch für Ärzte und Kassen verlockend, eine jener 80 Krankheiten zu diagnostizieren, die durch den Morbi-RSA viel Geld einbringen. Hingegen lohnt sich eine Diagnose kaum, wenn die Krankheit nicht durch den RSA abgedeckt wird. Demnach versuchen Kassen immer wieder, auf die Diagnose Einfluss zu nehmen. Eine Schlüsselrolle hierbei spielt die Diagnosekodierung, wie spektakuläre Fälle der Vergangenheit zeigten – Kassen sollen zum Beispiel Software-Hersteller dafür bezahlt haben, durch Programme auf die Diagnosen der Ärzte Einfluss zu nehmen. Die Software sollte Ärzten Änderungsvorschläge mit einer jener 80 Krankheiten anbieten, für die viele Gelder fließen (der Versicherungsbote berichtete).
  • Dieses Problem wirkt umso relevanter, je einflussreicher eine bestimmte Kasse auf ein Wettbewerbsgeschehen Einfluss nehmen kann durch Selektivverträge mit Vertragsärzten. Deckt eine Kasse viele Versicherte eines regionalen Gebiets ab, steigt die Möglichkeit zur Manipulation bei den Abrechnungen. Zwar wollte der Gesetzgeber durch ein seit 2017 geltendes Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) auch gegen diese Gefahr vorgehen. Uneinheitliche Kontrollen durch verschiedene Verantwortungsbereiche des Bundes und der Länder erschweren aber die Umsetzung des Gesetzes und können sogar zu einer zusätzlichen Wettbewerbsverzerrung führen. Werden doch die großen bundesweiten Kassen durch die Bundesbehörde geprüft, die regionalen Ortskrankenkassen hingegen durch die Aufsichtsbehörden der Bundesländer. Kritiker monierten mehrfach, dass Bundesländer sehr wohlwollend prüfen, um den ortsansässigen Kassen einen Wettbewerbsbonus gegenüber der Konkurrenz zu sichern.

All diese Kritikpunkte zeigen: Reformen des jetzigen Systems sind notwendig, denn der Morbi-RSA hat zu einer Reihe unerwünschter Folgen geführt. Was aber ist nun an Gegenmaßnahmen gegen Fehlanreize und Fehlentwicklungen anhand des neuen Gesetzentwurfs geplant? Einige zentrale Maßnahmen der umfangreichen Vorschläge sollen nun erläutert werden.

Geplant: Vollmodell auf Basis aller Krankheiten

Was aber plant nun Jens Spahn, um das Modell zu reformieren? Mit Blick auf die Zuweisung der Gelder ist die geplante Einführung eines Vollmodells auf Basis aller Krankheiten am folgenreichsten. Was aber bedeutet „Vollmodell“? Das Bundesgesundheitsministerium führt bei Vorstellung des Gesetzentwurfs aus: „Die Begrenzung des RSA auf 50-80 Krankheiten, die bei der Einführung der Morbiditätsorientierung des RSA als Übergangslösung vorgegeben wurde, wird aufgehoben und stattdessen das gesamte Krankheitsspektrum berücksichtigt“.

Statt dass also wie bisher nur 80 Krankheiten für den Risikostrukturausgleich berücksichtigt werden, fließen alle Krankheiten in die Berechnung ein. Konkrete Zahlen zu den Unterschieden des jetzigen und des geplanten Modells liefert das Sondergutachten zu den Wirkungen des RSA: Im jetzigen Modell führen 192 hierarchisierten Morbiditätsgruppen auf Grundlage von 80 Krankheiten zur Berechnung der Zuschläge. Ein Vollmodell hingegen würde nach jetzigem Stand 362 Krankheiten und 474 Morbiditätsgruppen berücksichtigen für die Zuschläge an die Kassen. Deutlich erweitert wäre bei einem derartigen Modell die Zahl der berücksichtigten Risikofaktoren für den Ausgleich.

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Das Versprechen: Über- und Unterdeckung gehen "deutlich" zurück

Was aber ist aus Sicht der Wissenschaftler der Vorteil eines Vollmodells? Ein wesentliches Problem könnte reduziert werden: Über- als auch Unterdeckung des jetzigen Modells würden „deutlich“ zurückgehen. Das trifft insbesondere auf die Überdeckung der Gesunden zu. In der Folge würden auch Anreize zur Risikoselektion vermieden werden. Denn Kassen stehen in einem Risikoselektionswettbewerb, was bedeutet: Kassen führen einen Wettbewerb um Mitglieder mit möglichst wenigen gesundheitlichen Risiken. Dem setzte der Gesetzgeber 2009 bereits den RSA entgegen, nun soll nochmals aufgrund der Fehlentwicklung gegengesteuert werden. Auch würden durch ein Vollmodell Manipulationsanreize vermindert werden, die insbesondere durch die Unterdeckung bestimmter Krankheiten entstehen.

Aber ist ein solches Modell vom Aufwand her auch umsetzbar, obwohl weit mehr Risikofaktoren berücksichtig werden müssten? Die Umsetzbarkeit ist aus Sicht der Experten gegeben. Mehr noch: Die technische Umsetzung des Vollmodells auf Krankheitenbasis sei sogar einfacher als die derzeitige Praxis. Bedacht werden nämlich muss: Auch Auswahlmodelle wie das aktuelle Modell für 80 Krankheiten erfordern – trotz ihrer Beschränkung auf bestimmte Krankheiten – stets Analysen, die alle 362 Krankheiten berücksichtigen müssen. Selektive Beschränkungen schaffen beim aktuellen Modell sogar einen Mehraufwand. Deswegen gilt aus Sicht der Experten und auch aus Sicht des Bundesministeriums: Das RSA-Verfahren wird durch ein Vollmodell „vereinfacht, da das aufwendige jährliche Verfahren der Krankheitsauswahl entfallen kann“.

Keineswegs aber darf man sich das Vollmodell dergestalt vorstellen, dass jede Krankheit zu einem Risikozuschlag führt. Stattdessen werden auch im Vollmodell nur Krankheiten mit statistisch signifikanten Folgekosten durch einen Risikozuschlag bedacht. Der Zuschlag hingegen für Krankheiten, die durch niedrige Kosten keinen Ausgleich nötig machen, wird einfach auf Null gesetzt.

TK-Chef zweifelt: Vollmodell verstärke "kranken Wettbewerb"

Was aber verheißungsvoll aus Sicht des Gesundheitsministeriums und aus Sicht der Gutachter klingt, rief schon in der jüngsten Vergangenheit – bei Diskussion der Vorschläge – einen prominenten Zweifler auf den Plan. Niemand geringerer nämlich als der Chef der Techniker Krankenkasse (TK) Jens Baas und damit der Chef von Deutschlands größer Krankenkasse erklärte gegenüber der Öffentlichkeit: "Die Ausweitung auf ein Vollmodell verstärkt den Diagnose-Wettlauf um Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Das ist kein produktiver, sondern ein kranker Wettbewerb".

Eine konkretere Argumentation zu diesem Argument liefert Volker Möws, Politikchef der TK, auf dem Internetblog der Techniker: Würde doch auch ein Vollmodell den Kodierwettbewerb um Gelder nicht beenden, sondern lediglich zu einer neuen Prioritätensetzung führen. Ein Vollmodell wirke demnach sogar als "Katalysator der Wettbewerbsverzerrung".

Geplant: Berücksichtigung regionaler Unterschiede bei der RSA-Berechnung

Auch das Problem regional unterschiedlicher Deckungssituationen, die zur Überdeckung bestimmter ländlicher Regionen und zur Unterdeckung insbesondere der städtischen Räume führt, soll durch das neue Gesetz bearbeitet werden. Zwei Maßnahmen zielen wesentlich auf dieses Problem. Zum einen ist die Einführung einer Regionalkomponente in den RSA geplant, Vorbild dieser Maßnahme sind die Niederlanden. Beobachtete man doch, dass eine Deckungsauswirkung stark mit bestimmten Faktoren korreliert – als Beispiel nennt das Bundesministerium den Anteil der ambulant Pflegebedürftigen in einer Region. Derartige mögliche Einflussfaktoren werden in Zukunft durch Variablen erfasst und fließen mit bestimmten Werten in die Berechnung des Risikostrukturausgleichs ein.

Eine zweite Maßnahme zur Eindämmung regionaler Auswirkungen ist jene Erweiterung der Wahlrechte für Versicherte, die wohl Inspiration für den Namen des Gesetzentwurfs war und damit bei weitem zu tief stapelt. "Erweiterung" bedeutet: gesetzliche regionale Begrenzungen sollen gestrichen werden, die bisher dazu führten, dass Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK), geöffnete Betriebskrankenkassen (BKK) sowie Innungskrankenkassen (IKK) nur einen begrenzten regionalen Raum abdecken mussten. In Zukunft sollen diese Krankenkassen für Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet wählbar sein.

Ziel des Plans ist, wettbewerbsverzerrende Faktoren abzubauen, die bisher vor allem die ländlichen Regionen begünstigten. Besonders die regionalen Ortskrankenkassen wurden aus Sicht von Kritikern bevorzugt: Zum einen führten unterdurchschnittliche regionale Ausgaben und hohe Zuwendungen durch den RSA zur Überdeckung der Ausgaben (der Versicherungsbote berichtete). Zum anderen konnten derart begünstigte Kassen in der Folge mit günstigen Zusatzbeiträgen werben. Erlaubt doch der Gesetzgeber seit dem 1. Januar 2015, einen Zusatzbeitrag zu erheben, sobald der allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent nicht ausreicht. Jene durch den RSA begünstigte Kassen aber haben dazu gar keinen Grund und nehmen neben den Geldern aus der Überdeckung noch einen Wettbewerbsvorteil mit.

Erweiterung umsetzbar? Bundesländer werden kaum "mitspielen"

Bei der Umsetzbarkeit dieses Plans jedoch ist Ärger zu erwarten, denn als Grundlage des Vorschlags muss zunächst die Aufsichtspraxis verändert werden. Sind doch für die regionalen Kassen die Aufsichtsbehörden der Bundesländer zuständig. Daraus entsteht ein mögliches zusätzliches Wettbewerbsproblem: Auch die Gutachten aus dem Hause des Ministeriums erwähnen, dass eine uneinheitliche Aufsichtspraxis einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil für regional begrenzte Kassen sichern kann. „Wettbewerbsverzerrungen durch Unterschiede im Aufsichtshandeln“ werden außerdem explizit als ein Motiv des Gesetzentwurfs genannt. Ob sich jedoch die Bundesländer dazu hinreißen lassen, lieb gewonnene Kompetenzen an den Bund abzugeben und dadurch regionale Strukturen zu schwächen, darf mit einigem Recht angezweifelt werden – bei der Umsetzung der Reformpläne wird es demzufolge spannend.

Geplant: "Manipulationsbremse" soll Fairness sichern

Wie aber will der Gesetzentwurf gegen das Problem der Manipulationsanreize vorgehen? Auch hierzu sind weitreichende Maßnahmen geplant, die zum einen die Diagnosekodierungen und zum anderen neue Wettbewerbsregeln betreffen. So sollen sich zukünftig hohe Steigerungsraten zum Nachteil der Kassen auswirken, wenn sie Indiz sind für Manipulationen. Überschreiten Steigerungsraten ein bestimmtes statistisches Maß, erhalten Kassen laut Plan in Zukunft keine Risikozuschläge für die entsprechenden Morbiditätsgruppen mehr.

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Darüber hinaus sollen neue Wettbewerbsregeln Mindeststandards gegen unlauteren Wettbewerb schaffen und strenger als bisher Maßnahmen der Risikoselektion untersagen. Besondere Möglichkeiten wie Unterlassungsansprüche oder auch zusätzliche Möglichkeiten zur Klage will der Gesetzgeber dabei den Kassen selbst eröffnen, sobald wettbewerbsverzerrende Rechtsverstöße durch Konkurrenten (wie zum Beispiel RSA-Manipulationen) vermutet werden. Das Besondere hieran: Diese Möglichkeiten sollen explizit auch für Situationen geschaffen werden, in denen Aufsichtsbehörden trotz Rechtsverstoß nicht aktiv werden.

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