Ist die Versicherungsbranche aktuell auf die Modernisierung der Wirtschaft und die Erwartungen der Kunden vorbereitet?

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Gregor Povh: Die ganze Wertschöpfungskette vieler Unternehmen hat sich durch die Digitalisierung tiefgreifend verändert, allerdings hinkt die Versicherungsbranche diesen Entwicklungen hinterher. Ihre Produkte haben sich in den letzten 30 Jahren nur marginal verändert. Damit meine ich nicht den online-Auftritt, einen Tarifrechner oder die eigene App. Bei der Produktentwicklung, der Tarifierung, dem Vertrieb oder der Kapitalmarktsteuerung kann ich kaum Neuerungen erkennen, die über regulatorisch geforderte Anpassungen hinausgehen.

Zwar bewegen sich Versicherungsunternehmen wegen des sehr hohen Kapitalbedarfes für neue Marktteilnehmer immer noch in recht ruhigem Fahrwasser. Doch nimmt der Druck, die Modernisierung anzugehen, weiter zu. Bisher hat der Veränderungsdruck allerdings bei den meisten Versicherungen nur zu sogenannten Digitalisierungsprojekten geführt, die letztlich nur einzelne Bausteine in der Dienstleistungskette optimieren. Das sind für mich klassische IT-Projekte.

Es gibt aber auch positive Beispiele. Beispielsweise geht das neue Rentenversicherungsprodukt der Allianz mit dem Namen FOURMORE in die richtige Richtung. Dieses „digitale Produkt“ beinhaltet mehr als nur eine digitale Abschlussstrecke, denn es enthält Neuerungen bei den Produkteigenschaften, den Vertriebswegen, in der Kommunikation und im Service.

Wie soll die moderne Altersvorsorge Ihrer Meinung nach aussehen?

Povh: Es sollte eine Altersvorsorge sein, die individuell auf den Bedarf der einzelnen Versicherten eingeht und die jeder passgenau nach seinen Wünschen, Präferenzen und Möglichkeiten für sich zuschneiden kann. Ein gutes Beispiel dafür ist die nachhaltige Kapitalanlage. Für viele Anleger ist es mittlerweile ein zentrales Anliegen, ESG-Kriterien zu beachten [„Environment Social Governance“, also Kriterien des Umweltschutzes, des Sozialen und der Unternehmensführung, Anmerkung Redaktion]. Hierauf müssen sich die Anbieter einstellen.

Unserer Meinung nach sollten, auf Grundlage von selbstlernenden Asset-Management-Modellen, Algorithmen die Rolle eines persönlichen Asset Managers einnehmen und nach diesen und weiteren Präferenzen das Kapital des Kunden verwalten. So würde ein solcher Algorithmus z.B. die Risiken der Kapitalanlagen nicht nur laufend überwachen, sondern auch unter Berücksichtigung des jeweiligen gewünschten Renteneintrittsalters und der Zielerreichung anpassen. Heute werden häufig noch Fonds oder ETFs als Investitionsvehikel genutzt, und es wird nicht unterschieden, ob der Sparer die investierten Gelder schon nächstes Jahr oder erst in zehn Jahren benötigt. Doch je größer das Vermögen und je näher das Renteneintrittsalter rückt, desto intelligenter muss die Risikosteuerung werden, sonst könnten Marktturbulenzen kurz vor dem Renteneintritt eine erhebliche Minderung des lang angesparten Vermögens verursachen. Der Algorithmus als persönlicher Asset Manager nimmt in diesem Fall eine breitere Diversifizierung in immer sicherere Assetklassen vor, um die Auszahlungsvorgaben des Kunden stets einhalten zu können.

Würde eine Altersvorsorge, die jeder individuell für sich zuschneiden kann, nicht Kunden und Berater überfordern?

Nein, die jederzeitige Verfügbarkeit von Informationen und die globale Vernetzung haben doch bereits dazu geführt, dass Kunden bei der Bewertung von Angeboten auf zwei Kriterien besonders achten. Das sind zum einen die Transparenz eines Angebots und zum anderen die Möglichkeit, ihre individuelle Persönlichkeit mit dem Produkt auszudrücken. Darüber hinaus sind Kunden oder Berater nicht gezwungen, jede einzelne Option zu diskutieren und individuell festzulegen. Aber wenn ein Kunde danach fragt, kann der Berater nun auch auf den persönlichen Wunsch des Kunden eingehen. Ich kann mir vorstellen, wenn solche Möglichkeiten erst einmal bestehen, dann würden immer mehr Menschen auch das Produkt wählen, welches genau ihren Vorstellungen und Wünschen entspricht. Viele der heutigen Altersvorsorgeprodukte erinnern mich dagegen eher an die „berühmte“ Bestellung eines Ford T-Modells. Damals konnte mit der industriellen Fließbandfertigung der Preis des Automobils zwar drastisch gesenkt werden, der Käufer hatte aber keine Wahl hinsichtlich der Ausstattung. Das führte zu dem weltbekannten Zitat:„You can have it any color as long as it’s black“.

Heute gibt es beim Kauf jedes Automodells so viele Auswahlmöglichkeiten, dass sich jeder Käufer im Prinzip eine höchst individuelle Variante zusammenstellen kann. Und mit einem Konfigurator ist die Auswahl zwischen den vielen Varianten kinderleicht. Diese Individualisierbarkeit ist ja mit einer der Gründe, warum einige Besitzer eine starke emotionale Bindung zu ihrem Auto haben.

Es läuft also auf eine Art Robo-Advisor für die Altersvorsorge hinaus. Aber gibt es davon nicht schon viele?

Richtig, allerdings sind bislang nur die wenigsten Robo-Advisor für das ratierliche Sparen und damit für den für größere Kundengruppen interessanten Einsatz in der Altersvorsorge geeignet. Ich glaube sogar, dass es bis heute keine wirklich überzeugende Lösung auf dem Markt gibt, mit der individuelle Kundenanforderungen umgesetzt werden können.

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Die Fragen stellte Björn Bergfeld

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