Versicherungsbote: Welche Folgen und Chancen bringt die europäische Stabilitätsrichtlinie Solvency II mit sich? Gibt es Risiken?

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Lutz Morjan: Die wichtigste Folge ist, dass alle europäischen Versicherer nun einer einheitlichen Aufsicht unterliegen. Einheitliche Wettbewerbsbedingungen sollen zu einem integrierten Versicherungsmarkt führen. Damit ergibt sich als Chance die Modernisierung der Risikomanagementsysteme der Branche.

Im Detail werden die notwendigen Eigenmittel eines Versicherers abhängig von seinem Risiko berechnet. Die Eigenmittelanforderung ist tendenziell höher als unter Solvency I, sodass Versicherer meist ihr Eigenmittelniveau stärken müssen.

Als Risiko kann gesehen werden, dass die Unterschiede zwischen Solvency I und II sehr groß sind. Der Übergang wird durch das Niedrigzinsniveau erschwert, weil der Aufbau zusätzlicher Eigenmittel und der Zinszusatzreserve sowie Investitionen in neue IT und Prozesse schwerer zu finanzieren ist.

Die Versicherer müssen im Rahmen von Solvency II für die Berechnung des erforderlichen Eigenkapitals nun „alle potenziell möglichen Risiken berücksichtigen“, schreibt das Bundesfinanzministerium in seinem Monatsbericht vom Mai 2015. Welche Auswirkungen hat das bei der Kapitalanlage der Versicherer?

Es reicht nicht aus, Risiken nach dem Standardmodell zu bewerten. Es gibt eine Reihe bekannter oder auch nicht bekannter Risiken, die für die Berechnung des Kapitalerfordernisses nicht berücksichtigt werden. Hierzu gehören Ausfallrisiken bei Staaten oder auch das Absinken von Zinsniveaus in noch negativere Niveaus. Diese Risiken könnten in Zukunft bei der Eigenmittelanforderung mit berücksichtigt werden. Damit wird die Kapitalanlageentscheidung komplexer.

Welche Unterschiede gibt es bei den verschiedenen Kapitalanlage-Klassen bzgl. Solvency II?

Die Grundlage ist eine Risikoeinschätzung der Investments und mit welcher Qualität sie die Verbindlichkeiten abdecken. Assetklassen, die den Risiken den Verbindlichkeiten weniger entsprechen, verlangen höhere Eigenmittel. Entscheidend ist deshalb die strenge Ausrichtung an den Cash Flows der Verbindlichkeiten.

In Verbindung mit der aktuellen Niedrigzinsphase wird es für die Gesellschaften immer schwerer, Geld gewinnbringend anzulegen. Welche Assektklassen und –allokationen sind für Versicherer aktuell besonders interessant?

Eine pauschale Empfehlung ist nicht möglich, da die Antwort vom Cash Flow-Profil und der Art der Versicherung abhängt. Allerdings lässt sich empfehlen, die vorhandenen Risikoprämien stärker zu diversifizieren. Diese sind in bestehenden Portfolios häufig auf einige wenige wie Credit und Inflation im Euroraum konzentriert. Diese Risiken sind in der derzeitigen Marktlage aber nicht ausreichend kompensiert.

Im Gegensatz zu Krankenversicherern können Lebensversicherer ihre schwierige Situation nicht durch Beitragserhöhungen verbessern. Welche Lösungen gibt es für Versicherer, gleichzeitig genug Eigenkapital zu haben und eine gute Kapitalanlage-Strategie zu finden?

Wichtig ist, sich durch stärkere Diversifikation und ein optimiertes Laufzeitenmanagement Risikobudgets zu erarbeiten. Diese Risikobudgets können dann für ausgewählte Opportunitäten verwendet werden.

Ausgangspunkt sollte aber ein detailliertes Verständnis für die Wirkungsweise einer Solvency II-Bilanz sein. Sie ist sehr viel schwankungsanfälliger, weil Kapitalmarktschwankungen direkt auf der Bilanz zu sehen sind.

Welche Möglichkeiten bieten Infrastrukturprojekte?

Infrastrukturprojekte können eines von mehreren Instrumenten zur Steuerung langfristiger Cash Flows sein. Allerdings ist eine fundierte Auswahl der Projekte unter Berücksichtigung der Risiken notwendig. Ein Boom in der Breite ist noch nicht zu erkennen.

Sind Wandelanleihen die Chance für Solvency II? Welche Chancen/Risiken haben diese?

Wandelanleihen sind ein sehr effizientes Mittel unter Solvency II, weil sie das Risikobudget sehr effizient nutzen. Chancen und Risiken ergeben sich aus einem begrenzten Aktienexposure, das ein gutes Ertrags-Risikoprofil aufweist.


Welche Alternativen gibt es?

Wichtig ist die Nutzung eines breiten Fixed Income-Anlageuniversums, um die Risikoprämien besser zu diversifizieren. Durch die negative Realverzinsung partizipieren Versicherer nicht genug am Produktivitätswachstum. Gleichzeitig führen die niedrigen Spreads im Euroraum zu einer unzureichenden Kompensation von Ausfallrisiken.

Alternativen sind Illiquidität (z.B. durch private Placements), Produktivitätsgewinne (realisierbar durch regionale Diversifikation z.B. in USA oder Emerging Markets), Fremdwährung (z.B. durch europäische Diversifikation), aktive Risikoprämien (z.B. in ineffiziente Märkte wie High Yield oder Frontier Markets), neue Industriesektoren (z.B. durch Senior Secured Bank Loans).
Die Auswahl dieser Ideen muss streng nach dem Verpflichtungsprofil erfolgen.

In den vergangenen Monaten haben gleich mehrere europäische Länder mit besonders langlaufenden Staatsanleihen am Primärmarkt Gelder eingesammelt. Sind derartige Anlagen eine Lösung für die Versicherungsgesellschaften?

Nein. Diese Wertpapiere bieten zwar lange Laufzeiten, die als ein Instrument für das Risikomanagement eingesetzt werden können. Im aktuellen Marktumfeld geht dies jedoch einher mit extrem niedrigen Erträgen.

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Die Fragen stellte Björn Bergfeld

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