Eine junge Weitspringerin wird mit starken Meniskus-Beschwerden in ein bayrisches Krankenhaus eingewiesen. Bei ihr soll eine Arthroskopie durchgeführt werden: ein Eingriff, bei dem das Knie geöffnet und beschädigte Knorpelmasse begradigt wird. Das Ärzteteam beginnt die Operation, kann aber nichts finden. Das Kniegelenk weist keine Schädigungen auf. Nach der Operation stellt sich heraus: Die Ärzte haben das falsche Knie operiert.

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Mindestens 155 Menschen starben 2014, weil der Arzt pfuschte

Solche Arztfehler ereignen sich jedes Jahr zu tausenden in deutschen Kliniken und Arztpraxen, wie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) in seiner Fehlerstatistik 2014 berichtet. In 14.663 Fällen haben sich Patienten im vergangenen Jahr bei ihrer Krankenkasse über vermeintliche Behandlungsfehler beschwert. Immerhin bei einem Viertel dieser Fälle (3.796) stellten die Gutachter fest, dass die Betroffenen tatsächlich durch Fehler zu Schaden gekommen sind. Besonders bitter: 1.294 Patienten erlitten einen bleibenden Schaden, weil der Arzt pfuschte. Und für 155 Menschen endete die fehlerhafte Behandlung sogar tödlich.

„Die Zahl der begutachteten Behandlungsfehlervorwürfe ist anhaltend hoch – insoweit können wir als Medizinischer Dienst keine Entwarnung geben“, sagt Dr. Stefan Gronemeyer, Leitender Arzt und stellvertretender Geschäftsführer des MDS, bei der Vorstellung der Zahlen am 20. Mai in Berlin. Er warnt jedoch vor einer Vorverurteilung der Ärzte. „Auch bei größter Sorgfalt passieren Fehler im Krankenhaus, in der Arztpraxis und in der Pflege. Uns geht es um einen offenen Umgang mit Fehlern, damit die Patienten entschädigt werden“. Zudem müssten Fehler systematisch analysiert werden, damit sie in Zukunft vermieden werden können. Im Mittelpunkt „steht dabei die Frage, welche Umstände zum Fehler geführt haben.“

Zählt man die Fälle hinzu, die Patienten bei Gutachterstellen der Ärzteschaft geltend machen, kommt man sogar auf rund 6000 bestätigte Fehler im vergangenen Jahr, wie ein Sprecher der Bundesärztekammer bestätigte.

In der Pflege bestätigen sich die meisten Vorwürfe

Die meisten Beschwerden (7.845) bezogen sich auf operative Eingriffe im Krankenhaus. Allerdings war hier der Fehlalarm besonders hoch, so dass nur in 24 Prozent der Fälle tatsächlich ein Behandlungsfehler nachgewiesen werden konnte. Der Grund für die vielen Beschwerden: Viele Patienten vermuten bereits Ärztepfusch, wenn der Genesungsverlauf nicht wie gewünscht erfolgt, etwa aufgrund der Unverträglichkeit eines Medikamentes. Dem Arzt kann in diesem Fall aber oft kein Vorwurf gemacht werden.

Am häufigsten wurde ein Fehlervorwurf in der Pflege bestätigt (57,8 Prozent von 590 Fällen), gefolgt von der Zahnmedizin mit 39,2 Prozent von 1.419 Fällen, der Allgemeinchirurgie mit 27,5 Prozent von 1.642 Fällen sowie der Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit 27,0 Prozent von 1.144 Fällen. Typische Pflegefehler können zum Beispiel sein, wenn die Pflegekraft eine Notsituation beim Patienten beobachtet, aber keinen Arzt zur Hilfe holt. Oder wenn ein Patient sich wund liegt, weil er nicht ausreichend umsorgt wird.

Hohe Dunkelziffer bei Behandlungsfehlern

Aber wie aussagekräftig ist die MDK-Statistik mit Blick auf die tatsächliche Zahl der Behandlungsfehler? Daran scheiden sich nicht nur die Geister, sondern auch die Gesundheitsexperten. Man müsse „von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, weil Fehler zum einen nicht immer als solche zu Tage treten und somit weder für Patienten noch für Behandler erkennbar sind. Zum anderen sind Patienten vermutlich oft nicht in der Lage oder können sich nicht entschließen, einem Fehlerverdacht nachzugehen“, kommentiert Prof. Dr. Astrid Zobel, Leitende Ärztin des MDK Bayern.

Für Aufsehen sorgte der AOK Krankenhausreport 2014, bei dem die Zahl der möglichen Schäden weit höher geschätzt wurde. Das wissenschaftliche Institut der AOK (Wido) hatte hierfür Stichproben hochgerechnet und kam auf 190.000 Fehler bei Krankenhausbehandlungen, von denen rund 19.000 Fehler tödlich enden.

So sterben allein zehntausende Patienten durch mangelnde Hygiene im Krankenhaus, indem sie sich mit resistenten Keimen (sogenannte MSRA-Keime) anstecken. Das Problem ließe sich mit mehr Willen deutlich reduzieren. In den Niederlanden, wo Patienten zunächst isoliert und auf resistente Keime untersucht werden, sterben weit weniger Patienten an einer MSRA-Infektion. "Durch Ärztepfusch sterben 5 mal mehr Menschen als im Straßenverkehr", spitzt die Deutsche Zentrale für Patientenrechte (DZPR) zu.

Kritiker argumentieren, dass auch Politik und Krankenkassen zu der hohen Zahl an Behandlungsfehlern beitragen. Krankenhäuser werden zum Beispiel von Krankenkassen (Behandlung, Unterkunft, Verpflegung), Bundesländern (Infrastruktur) und teilweise privatwirtschaftlichen Trägern finanziert. Die Kosten für eine Behandlung werden nach den sogenannten Diagnosis Related Groups (diagnosebezogene Fallgruppen) berechnet. Das heißt, pro Patient wird eine Fallpauschale ausgezahlt, die unter anderem die Art der Behandlung sowie Alter und Geschlecht des Patienten berücksichtigt.

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Dieses Fallpauschalen-System führt einerseits dazu, dass mehr und unnötig operiert wird, weil sich bestimmte Arten von OPs für das Krankenhaus finanziell lohnen. Und andererseits zu einem steigenden Zeit- und Kostendruck in der medizinischen Betreuung. Kliniken werden nun z.B. finanziell „bestraft“, wenn sie einen Patienten länger als üblich stationär behandeln. Das führt zu komplett neuen Wortschöpfungen. Seit Einführung der Fallpauschale kursiert unter Ärzten und Pflegern der Begriff „blutige Entlassung“ - gemeint ist, dass ein Patient bereits aus Kostengründen nach Hause geschickt wird, obwohl er eigentlich länger im Krankenhaus bleiben müsste.

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