Kürzlich präsentierte das Statistische Bundesamt (Destatis) scheinbar dramatische Zahlen zur Demografie in Deutschland. Bis 2060 könnte sich der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung nahezu verdoppeln und damit die Gruppe der Erwerbstätigen, die diese Volkswirtschaft finanzieren, massiv wirtschaftlich überfordern. Sozialwissenschafter haben auf Basis der amtlichen Zahlen des Statistikamtes weitergerechnet und geben Entwarnung für die Zukunft. Deutschland droht kein wirtschaftliches Schreckensszenario; eher haben wir es publizistisch mit einer kleinen Demografie-Lüge zu tun.

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Fast jeder Zeitungsleser kennt diesen Faktor - eigentlich ist er bereits eine Binsenweisheit: Jede deutsche Frau bekommt im Durchschnitt nur 1,4 Kinder. Dies bedeutet bei exakt 2,0 Eltern, die statistisch im Schnitt 30 Jahre alt sind, dass die Bevölkerung alle 30 Jahre um 30 Prozent schrumpft. Nach dieser zugegeben einfachen 3 mal 30-Regel muss man eigentlich nur noch hochrechnen, wann die Deutschen aussterben. In hundert Jahren wäre es soweit.

Keine Prognose – nur Vorausberechnung

Bekanntlich hat das Statistische Bundesamt 45 Jahre weit in die Zukunft gerechnet und kommt im Jahr 2060 auf etwa 70 Millionen Menschen, die dann Deutschland bevölkern. Hierbei wurden neben den Geburtenraten auch Zuwandererströme eingerechnet. Wesentlich ist: Die Bundestatistiker sprechen keineswegs von einer Prognose! Vielmehr rechneten die Demografen verschiedene Bevölkerungsszenarien aus. Selbst kleinere Veränderungen an den „Stellschrauben“ der Rechenformel produzierten auf 45 Jahre hochgerechnet erhebliche Veränderungen.

Sozialwissenschaftler rechnen weiter

Johannes Steffen, ehemaliger Referenten für Sozialpolitik der Arbeitnehmerkammer Bremen, hat das aktuell diskutierte Rechenmodell mit weiteren ökonomischen Rahmendaten angereichert, analysiert und aus dem demografischen Zukunftsszenario 2060 der Bundesstatistiker volkswirtschaftliche Auswirkungen berechnet. Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell, Professor am Rhein-Ahr-Campus Remagen der Hochschule Koblenz, berichtet auf seinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ in einer Einordnung der Berechnung von Johannes Steffen über weniger alarmierende wirtschaftliche Folgen, als es die aktuelle Presse-Berichterstattung scheinbar Glauben machen will.

90 Prozent mehr Alte

Bei Hochrechnungen zu unterscheiden sind zunächst die drei Haupt-Bevölkerungsgruppen: Kinder und Jugendliche, die Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 67 und die Rentner. Im Jahr 2060 steigt der so genannte Altenquotient, also der Anteil der Rentner (67 oder älter) an der Gesamtbevölkerung, von heute 30 auf 57 Prozent, sagt die Berechnung der Bundesstatistiker. Anders gesagt: rund 90 Prozent mehr Alte! Scheinbar ist diese dramatisch anmutende Zahl ein Indikator, der den Wohlstand der Deutschen „in Minus“ zu drehen droht.

Weiterrechnen macht schlau

„Wie sollen das die arbeitenden Jahrgänge stemmen?“, fragt Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Ein fast verdoppelter Anteil der Alten, „da ist es doch mehr als offensichtlich, dass die mittlere Generation das nicht mehr schultern kann.“ Aber man dürfe, so Sell, an dieser Stelle mit der Berechnung der Zukunft nicht stehenbleiben. Also reproduziert der Professor in seinem Bericht die Zahlen von Experte Johannes Steffen. Und demonstriert, wie sich die demografische Last der Arbeitenden halbiert.

Demografische Last zunächst halbiert …

Entsprechend der Logik des so genannten Drei-Generationen-Vertrags müssen die Arbeitenden bekanntlich nicht nur Rentner, sondern auch Kinder und Jugendliche ernähren. Die Kinder kosten auch noch?! Das klingt nach einer gesteigerten Demografie-Bedrohung, nach untragbaren Lasten für die erwerbstätigen Kohorten von 20 bis 67. Es ist umgekehrt: Johannes Steffen hat die Quoten der beiden nicht arbeitenden Bevölkerungsgruppen, Kinder und Rentner, zunächst addiert und anschließend ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gesetzt. Und sie da: „Der ursprüngliche Zuwachs von 90 Prozent beim Altenquotienten hat sich damit auf 49 Prozent fast halbiert“, berichtet Sozialwissenschaftler Sell in seinem Aufsatz.

… und dann geviertelt

Experte Steffen „hört an dieser Stelle nicht auf und argumentiert weiter“, berichtet Fachautor Prof. Sell. Die mittlere, also die arbeitende Altersgruppe „muss nicht nur die Jüngeren und die Älteren ,tragen', sondern selbstverständlich auch sich selbst“. Also hat Rechner Steffen wiederum auf Basis der offiziellen Zahlen erstens die Gesamtbevölkerung 2060 herangezogen und zweitens mit dem Anteil der Erwerbstätigen verglichen. „Der rechnerische Anstieg schrumpft noch einmal um mehr als die Hälfte“, so zitiert Professor Sell die Erkenntnis des Experten Steffen. Mit anderen Worten: Der 90-prozentige Anstieg der Rentner-Kohorten führt nur zu etwa 20 Prozent, nennen wir es volkswirtschaftlicher Mehrlast, die auf die Arbeitenden des Jahres 2060 zukämen.

Nur noch 9 statt 90 Prozent demografischer Mehrlast

„Aber wir sind noch nicht am Ende“: mit diesem Satz macht Wissenschaftler Stefan Sell Lust auf mehr und verweist auf die Erwerbsquote der mittelalten Bevölkerung (20 bis 67). Sell zufolge muss man auch das Zahlenverhältnis der Gesamtbevölkerung einerseits; und die konkrete Anzahl der Erwerbstätigen betrachten: Damit fallen Hausfrauen, Behinderte oder dauerkranke Menschen sozusagen aus der Kalkulation.

Um die Erwerbsquote im Jahr 2060 zu ermitteln, „muss man eine Annahme machen“, wie sich der Anteil der tatsächlich Erwerbstätigen in Zukunft verändern wird. Die Wissenschaftler rechnen vorsichtig mit einem Anstieg der Erwerbstätigen innerhalb der mittelalten Bevölkerungsgruppe um 5 Prozentpunkte. Den Grund für diese Annahme liefert das Statistische Bundesamt selbst: Nach dessen Mikrozensus-Auswertung ist die Erwerbstätigenquote von 2005 bis 2013 sogar um 7 Prozentpunkte gestiegen. „Wenn man so vorgeht, dann reduziert sich der Zuwachs weiter auf 9 Prozent bis zum Jahr 2060“, schreibt Stefan Sell.

Und weiter: „Fazit dieses Rechenwegs: Der vermeintlich untragbare ,Belastungsanstieg' von anfänglich 92 Prozent (Altenquotient) reduziert sich am Ende auf gerade noch 9 Prozent“, so der Sozialwissenschaftler Stefan Sell in seiner Einordnung der Rechenergebnisse des Rentenexperten Johannes Steffen. Letzterer bringt es in seinem Ur-Text so auf den Punkt: „Entfielen 2013 auf jeden Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe (einschließlich seiner selbst) 2,0 Köpfe der Gesamtbevölkerung, so wären es im Jahr 2060 2,2 Köpfe.“

Wir sind noch nicht fertig

„Und auch der letzte Gedankenschritt des Johannes Steffen soll hier zitiert werden“, schreibt Stefan Sell. „Er geht davon aus, dass ja in den vielen Jahren bis 2060 die Produktivität der Menschen nicht stehen oder gleichsam eingefroren bleibt. In den Jahren 1992 bis 2014 lag der durchschnittliche Zuwachs der Stundenproduktivität bei 1,4 Prozent.“ Experte Steffen selbst schreibt: „Bei einem weiteren Anstieg der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde von im Durchschnitt 1,4 Prozent jährlich steigt die Leistung pro Erwerbstätigen bis 2060 um fast 100 Prozent“.

Diesen, sagen wir modellierten Produktivitätszuwachs haben die Wissenschaftler nun nicht noch weitergerechnet, weil damit die Grenze der Seriosität überschritten würde. Aber: Stiege die Produktivität wie gerechnet, dann würden die „vorausberechneten“ (Statisches Bundesamt) Demografie-Lasten noch weiter sinken.

Fazit

Natürlich werden die Deutschen älter und weniger. Aber die scheinbare Dramatik eines um 90 Prozent steigenden Rentneranteils belastete, so man dieses fortgerechnete Modell auf Datenbasis der Bundesstatistiker anwenden kann, die Wirtschaft weniger als befürchtet – vor allem weniger als berichtet! Allerdings sind die betrachteten Zahlen lediglich volkswirtschaftliche Rahmendaten. Über den Wohlstand im Einzelfall entscheidet eine möglichst gerechte Verteilung des Volkseinkommens: massenweise Herausforderungen für die Sozialpolitik.

Kein Grund zur Panik

Eines zeigen die vorstehenden Berechnungen aber: Es gibt keinen Grund, auch nicht für junge Menschen, den Generationenvertrag symbolisch oder tatsächlich zu kündigen. Auch für (typisch Politiker?) reflexhafte Ankündigungen zu Kürzungen der Sozialleistungen oder höheren Beiträgen gibt es keinen Anlass. Es gibt auch keinen Anlass für Panik. Es gibt weniger eine Demografie-Falle als vielmehr eine kleine Demografielüge. Letztere ist PR. Der Rest ist Sozialpolitik. Vor allem die Pflegeversicherung steht vor hohen Belastungen, weil immer mehr „Hochbetagte“, Menschen über 80 Jahre, und entsprechend viele Pflegefälle zu versorgen sind.

Hier geht es zum Volltext von Prof. Stefan Sell, wo er auch die Berechnungen von Dr. Johannes Steffen wiedergibt und bespricht.

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Hinweis:

Die Originalberechnungen unterscheiden zwischen Szenarien der Regelrentenalter 65 oder 67. In dem vorstehenden Text wurde zum Zwecke der Lesbarkeit nur auf Zahlen und Vorausberechnungen auf Basis eines Regelrentenalters 67 eingegangen.

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