Glaubt man dem aktuellen Leitartikel des Spiegel, der – wie so oft in letzter Zeit, wenn Finanzthemen diskutiert werden – als Mischung aus dunklem Raunen und Endzeitprophezeiung daherkommt, dann gibt es für die Börsen nichts schlimmeres, als wenn am Aktienmarkt Ruhe herrscht. Das hat damit zu tun, dass an der Börse keine Waren gehandelt werden, sondern Erwartungen – diese müssen geschürt und befeuert werden, durch Prognosen und Gerüchte, notfalls auch durch Falschmeldungen. Der Aktienmarkt braucht die Hysterie, braucht auch die Übertreibung, denn steigende oder fallende Kurse sind Handlungsimpulse: wenn niemand kauft oder verkauft, können die Akteure nicht das große Geld verdienen.

Lob des Gelduntergangs

Da ist es besser, wenn ein schweißnasser Fernsehjournalist den baldigen Untergang der Geldwelt prophezeit, so wie wir es in den letzten Monaten auf allen Flachbildschirmen verfolgen konnten, als wenn ein Langweiler lässig lächelnd verkündet, dass sich an den Börsen nichts tut. Hauptsache, die Aktienbesitzer werden durch ein fiebriges Zittern der Kurven zum Handeln animiert, und sei der Anlass noch so schmerzhaft! Hauptsache es ereignet sich etwas, nervöses Zucken, Schock oder Angstkauf, denn jede Krise erzeugte bisher auch Profiteure. „Wenig fürchten die Händler in den Investmentbanken und die Hedgefonds mehr als einen langweiligen Markt – wenn die Wirtschaft vor sich hin schnurrt und die Kurse kaum Bewegung zeigen“, heißt es dazu im Spiegel. Ganz gleich, ob Crash, Boom oder Peng: dort, wo der Seismograph ausschlägt, herrscht Bewegung auf dem Börsenparkett!

Doch nun droht eine neue Form der Erstarrung, denn der demographische Wandel macht auch vor den Börsen nicht halt. Die Aktienmärkte haben Arthrose bekommen, es knirscht und ächzt an den Finanzplätzen!

US-amerikanische Aktienmärkte zeigen Altersbeschwerden

Die Börsen droht also die Altersarmut? So zumindest legt es ein Leitartikel der Financial Times Deutschland nahe, der sich auf eine frische amerikanische Studie bezieht. „Babyboomer ziehen Börsen runter“, titelte die Zeitung am gestrigen Mittwoch. Da die Zeiten des Babybooms schon eine Weile vorbei sind, meint das Blatt nicht etwa die heutigen Familiengründer, sondern jene Senioren, die zwischen dem zweiten Weltkrieg und der Mitte der 60er Jahre geboren wurden, also irgendwo im Zeitfenster zwischen Luftbrücke, James Dean und Rock 'n' Roll. Ihre Nachkommen bekamen die Antibabypille geschenkt und waren weniger gebärfreudig. Nun herrscht ein Missverhältnis zwischen jungen und junggebliebenen Amerikanern vor. „Risikoscheue Rentner fluten Märkte mit Aktien“ - Hilfe! Das klingt schon wieder nach Ramschpapieren, nach ungebändigter Masse, nach baldigem Untergang! Und wieder einmal soll die Überalterung der Gesellschaft Wurzel allen Übels sein. Geht die Börse also bald am Stock? Müssen wir eine Pflegepauschale auf Aktiengewinne erheben?
Stimmen die Prognosen, so halbiert sich altersbedingt das Kurs-Gewinn-Verhältnis des Index der 500 größten US-Konzerne bis zum Jahr 2025. Investment könnte ein Fachgebiet für Gerontologen werden!

Tausche Aktien gegen Rente!

Um zu verstehen, warum die Aktienkurse unter Altersbeschwerden in den Keller stürzen, anstatt zackig und kurvenreich in windige Höhen zu schnellen, muss man sich eine Besonderheit des amerikanischen Anlageverhaltens bewusst machen. Mehr noch als in Deutschland sind Aktien in den USA ein wichtiger Bestandteil der Altersvorsorge, denn die Rente wird oft nur für zwanzig Jahre gezahlt, danach droht Altersarmut. Gekauft werden die Wertpapiere bei Berufseintritt – und beim Eintritt ins Rentenalter werden sie wieder abgestoßen. Mit dem Gewinn aus den Aktienverkäufen wollen sich die Pensionäre ihren Lebensabend versüßen, schließlich müssen altersgerechte Produkte wie Surfbretter, Kitesportgeräte, Mountain Bikes, Großstadtappartements, Hausbars oder Cabriolets finanziert werden!

Das Problem hierbei ist: Auch vor den USA macht der demografische Wandel nicht Halt. Die Gesellschaft altert – und wenn die Pensionäre ihre Aktien abstoßen, sind nicht genügend junge Nachzügler da, um die Wertpapierschwemme aufzufangen. Kein Wunder also, dass ausgerechnet die Notenbank von San Francisco die Studie von einer möglichen Altersblase an den Börsen präsentiert hat. San Francisco – jene ehemalige Welthauptstadt der Hippiekultur, Ort der freien Liebe und bewusstseinserweiternden Mittel. Hier schien lange Zeit alles möglich zu sein. „Anything goes“ - war das nicht auch das Motto der Finanzindustrie in den 80er und 90er Jahren? Nun geht Anything am Stock und der Altersschmerz sitzt ihm in den Knochen.
Die Verfasser der Studie prophezeien sogar eine Verlängerung der Finanzkrise. „Es ist beunruhigend, dass die Pensionierungswelle bei den Babyboomern dann ernsthaft beginnt, wenn sich die Aktienmärkte von der Finanzkrise gerade erholt haben – und damit die Erholung möglicherweise verlangsamt.“ Nicht Hedgefonds, sondern Rentner sind die neuen Troublemaker an den Finanzmärkten!

Altersflucht in „sichere“ Anlagen bedroht Kursentwicklung

Doch ein weiterer Umstand trägt zur Alterskrise der Aktienmärkte bei. Ältere Menschen neigen stärker als junge Anleger zu risikoarmem Anlageverhalten – viele rüstige Aktionäre stoßen ihre riskanten Wertpapiere ab, um in vermeintlich sichere Staatsanleihen oder konservative Finanzprodukte zu investieren. Zugleich sind immer weniger junge und risikofreudige Anleger da, um die Unternehmensanteile zu kaufen. Hier fordert ebenfalls die demografische Entwicklung seinen Tribut, denn wer kurz vor der Rente steht und seinen Lebensabend mit Wertpapieren absichern will, der setzt nicht mehr so ungebremst euphorisch sein Geld aufs Spiel. Wer aber soll dann in risikoreiche Anlagen investieren?

Es scheint paradox: die amerikanischen Finanzmärkte geraten auch deshalb in Turbulenzen, weil weniger junge Menschen mit hochriskanten Anlagen jonglieren? So legt es die Studie der Notenbank von San Francisco nahe, wenn man ihre Ergebnisse polemisch zuspitzt. Müssen nun Credit Leader Swaps, Leerverkäufe und Ausfallwetten unter Artenschutz gestellt werden – um unser aller Wohlstand willen? Sollte es zukünftig eine verpflichtende und kapitalgedeckte Säule der Spekulationsvorsorge geben, um die Spekulation im Alter zu fördern? Eine generationengerechte Vorsorge könnte so aussehen, dass die ältere Bevölkerung zugunsten der jungen Menschen Leerverkäufe tätigt – bezuschusst durch Steuermittel.

Panik ist für alle da!

Die US-Finanzaufsicht sieht sich nun in der Pflicht, schnell und entschlossen zu handeln und den Finanzmärkten einen passenden Stützstrumpf überzustülpen. Hier schließt sich nun der Kreis zu unserer Eingangsbehauptung: es tut den Börsen gut, wenn Erwartungen geschürt und befeuert werden, wenn Panik und Hysterie auf den Brettern dieser Handelswelt herrscht, wenn Wirtschaftsjournalisten vor Fernsehkameras transpirieren, ängstlich in die Kameras schauen und sich zitternd an Mikrofonen festkrallen, wenn auch der Spiegel von einem „Gelduntergang“ orakelt. Egal ob Krise oder Crash – Hauptsache, es tut sich was!

Vielleicht liegt gerade in der Passivität der Senioren die größte Gefahr, in ihrer Unfähigkeit zum schnellen Agieren und Reagieren, so dass sie mit der Kurzfristigkeit der Kursverwerfungen nicht mehr Schritt halten können. Ein älterer Investor, der ein Haus in Malibu besitzt, täglich kitesurfen geht und Hemingway liest, ist eben nicht mehr so aus der Ruhe zu bringen wie ein junger aufstrebender Geschäftsmann, der alle seine Spekulationsblasen noch vor sich hat. Er ist gelassener, zufriedener, glücklicher, unaufgeregter – er ist schlichtweg für den Erfolg nicht mehr gemacht. Wir brauchen mehr Hysterie, jung und unverbraucht, denn diese nutzt uns allen!