Das Berliner IGES Institut hat darin ein Instrument untersucht, von dem sich viele Gesundheitsökonomen neue Impulse beim Wettbewerb um Kosten und Qualität im Gesundheitswesen versprechen: so genannte Selektivverträge.
Vereinfacht gesagt, sind die Krankenkassen dabei nicht mehr verpflichtet, mit jedem kassenzugelassenen Arzt, Krankenhaus oder Arzneimittelhersteller abzurechnen. Sie können sich Anbieter heraussuchen, die eine Leistung mit guter Qualität zu günstigen Preisen erbringen. Beispielsweise, weil sich eine Klinik auf eine Operation spezialisiert hat und deshalb weniger Nachbehandlungen nötig sind, weil Ärzte eng kooperieren und so Doppeluntersuchungen vermeiden oder weil ein Pharmahersteller auf Medikamente Rabatt gewährt.

Die Versicherten würden bei der Wahl von Ärzten und Kliniken eingeschränkt. Doch im Idealfall hätten sie trotzdem Vorteile:
Ärztliche Eingriffe wären wirkungsvoller und weniger belastend. Und die Beiträge würden weniger stark steigen. Allerdings drohen auch Nebenwirkungen: Was medizinisch notwendig ist, das können Laien kaum und selbst viele Fachleute nur schwer erkennen.
Unter dem Vorwand, das Verhältnis von Preis und Leistung zu verbessern, ließe sich daher auch ein simpler Sparkurs verfolgen. Ein Selektivvertrag könnte so "zu einem Geschäft zu Lasten Dritter, nämlich der Patienten werden", schreiben die IGES-Forscher um Dr. Martin Albrecht. In ihrer Studie beleuchten sie erstmals systematisch, wie groß das Risiko solcher Missbräuche ist - und wie sie sich verhindern lassen.

Die IGES-Experten halten es für wahrscheinlich, dass die Möglichkeiten für die Kassen künftig ausgeweitet werden. Und auch sie halten Selektivverträge grundsätzlich für geeignet, das Gesundheitswesen effizienter zu steuern. Allerdings nur, wenn Regulierungen Grenzen setzen.
Wie diese aussehen müssten, hat das IGES für zwei Bereiche untersucht: Krankenhäuser, mit denen die Kassen gegenwärtig keine Selektivverträge abschließen können, und die komplette Arzneimittelversorgung inklusive patentgeschützter Mittel.

Krankenhäuser

Mögliche Negativ-Wirkungen beleuchteten die Forscher, indem sie simulierten, was sich für Versicherte ändert, wenn ihre Kasse bestimmte Eingriffe nur noch in ausgewählten Kliniken bezahlt. Dazu wählten sie als Beispielregionen Bayern und Thüringen sowie sieben Behandlungen, die häufig sind und überwiegend terminlich gut planbar: unter anderem Leistenbruch- und Prostata-Operationen, künstliche Hüftgelenke, Bypässe und Geburten. Dann suchten die Forscher vier Kriterien aus, nach denen Krankenkassen Kliniken auswählen könnten:
  • Die jährliche Fallzahl bei einem Eingriff, weil sie Rückschlüsse auf Routine und Spezialisierung zulässt.
  • Das zahlenmäßige Verhältnis von Fachärzten zu behandelten Fällen.
  • Den Basisfallwert als Maß für die Kosten der Behandlung.
  • Das Verhältnis von Kosten und Qualität, das die ersten beiden Faktoren ins Verhältnis zum dritten setzt.
Alternativ könne man aber auch andere Indikatoren heranziehen, betonen die Forscher. Geeignet wären beispielsweise Investitionen, die Personalausstattung in der Pflege oder Befragungen zur Patientenzufriedenheit. Allgemein als optimal akzeptierte Kriterien für gute Krankenhäuser gebe es bislang nicht.

Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in den Ergebnissen wider. Je nachdem welches ihrer Kriterien die Forscher heranziehen, ändert sich oft auch die Platzierung der Kliniken bei einer Auswahl. Das macht eine Entscheidung schwierig. Allerdings gibt es eine Gruppe von Krankenhäusern, die nach allen Kriterien wohl einen Zuschlag bekommen würden.

Eindeutiger ist der zweite zentrale Befund: Die Wege für Patienten würden durch Selektivverträge deutlich länger. Im Durchschnitt der von den IGES-Forschern ausgewählten Szenarien hätten es Kranke etwa 1,7-mal weiter als bisher, wenn ihre Kasse nur noch mit der Hälfte der Krankenhäuser kooperieren würde. Auf dem Land wären dann Entfernungen von 30 oder 40 Kilometern bis zur nächsten geeigneten Klinik keine Seltenheit.

Die Forscher empfehlen daher, auch bei terminlich planbaren Eingriffen eine Entfernungs-Obergrenze einzuziehen. Etwa eine Vorgabe an die Krankenkassen, wonach 90 Prozent der Bevölkerung für solche Behandlungen maximal 25 Kilometer fahren sollten. In den Beispielregionen müssten Kassen dazu je nach Operation mit knapp 60 bis 80 Prozent der derzeit anbietenden Kliniken Verträge abschließen.
Schwieriger zu regeln: Für Notfälle müsste eine wirklich wohnortnahe Versorgung sichergestellt sein. Außerdem ist ein Krankenhaus gerade in kleineren Orten ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Arzneimittel

Szenarien für mehr Wettbewerb bei Medikamenten greifen ebenfalls tief ins Gesundheitssystem ein. Sie laufen darauf hinaus, die allgemeine Leistungspflicht der Krankenkassen stark zu lockern.
So würden nicht nur wirkstoffgleiche, sondern auch wirkstoffverschiedene Medikamente als untereinander austauschbar ("substituierbar") angesehen, wenn sie für denselben Behandlungszweck zugelassen sind.
Der Arzt müsste dann Medikamente jener Hersteller verordnen, mit denen die Kasse eines Patienten Selektivverträge hat. Arzneimittel anderer Marken wären von der Erstattung ausgeschlossen.
Kranke, so eine Befürchtung, könnten häufiger an Nebenwirkungen leiden, wenn die Kasse das für sie optimal verträgliche Mittel nicht erstattet. Außerdem sänke für Pharmahersteller möglicherweise der Anreiz zu Innovationen, weil der Wettbewerb auch verstärkt patentgeschützte Mittel umfassen würde. Andererseits sind gerade diese neuen Arzneien Kostentreiber, obwohl längst nicht alle einen nennenswerten Zusatznutzen bieten.

Welche Medikamente sind nun grundsätzlich gegeneinander substituierbar, kämen also für Selektivverträge in Frage?
Um das herauszufinden, untersuchten die Forscher 38 Wirkstoffgruppen, die in 16 so genannten Indikationsgruppen - also gegen eine oder mehrere Krankheiten - eingesetzt werden. Darunter sind Substanzen zur Behandlung von Parkinson, Blutfettsenker, Schmerzmittel und Medikamente gegen Thrombose oder Diabetes.
Insgesamt repräsentieren sie knapp die Hälfte des Gesamtumsatzes und der abgesetzten Mengen auf dem deutschen Arzneimittelmarkt.
Das IGES prüfte nun auf Basis wissenschaftlicher Quellen unter anderem, ob sich die verschiedenen Wirkstoffgruppen relevant bei den Zulassungsbestimmungen oder bei der Wirksamkeit unterscheiden, ob deutliche Abweichungen bei Nebenwirkungen oder Einnahmekomfort gegen eine Austauschbarkeit sprechen. Ergebnis:
  • Bei knapp sechs Prozent der untersuchten Medikamente sind die Wirkstoffgruppen soweit austauschbar, dass die Forscher Selektivverträge für uneingeschränkt möglich halten. Trotz des relativ geringen Mengenanteils hat diese Gruppe eine spürbare finanzielle Bedeutung: Auf sie entfallen knapp 18 Prozent des Umsatzes in den untersuchten Indikationsbereichen.
  • Auf der anderen Seite sehen die Forscher Wirkstoffgruppen, die nicht substituierbar sind, weil sich alternative Therapien unter medizinischem Gesichtspunkt zu deutlich unterscheiden. Diese Gruppen machen unter den untersuchten Medikamenten gut ein Zehntel der verordneten Mengen aus. Der Umsatzanteil ist jedoch weitaus größer: 45 Prozent.
  • Bei weiteren Wirkstoffgruppen, die etwa 37 Prozent Anteil am untersuchten Umsatz haben, stellen die Forscher eine "bedingte Eignung" fest.
Das heißt: Ärzte brauchen jenseits der Selektivverträge die Freiheit, gegebenenfalls auch ein anderes Medikament zu verschreiben - etwa wenn der Patient sonst allergisch reagieren würde.
Die IGES-Forscher schlagen als pragmatischen Ansatz eine Quotenregelung vor: Je "problematischer" eine Wirkstoffgruppe ist, desto höher dürfte der Anteil der Verordnungen sein, bei denen Ärzte sich nicht an die Selektivverträge halten müssen.

Hans-Böckler-Stiftung

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