Künstliche Intelligenz (KI) verändert das Fundament des Pricings in der Versicherungsbranche. Was lange als Zukunftsvision galt, ist heute Realität: lernende Modelle, die in Sekunden Millionen Datenpunkte auswerten, Muster erkennen und Preise neu kalibrieren. Für Versicherer entsteht dadurch ein gewaltiger Hebel. Sie können Risiken präziser bewerten, Produkte individueller zuschneiden und Margen gezielter steuern. Doch mit der neuen Macht der Daten wächst auch die Verantwortung: Wer KI im Pricing nutzt, darf sich nicht allein auf Ergebnisse verlassen – er muss die Logik dahinter verstehen, beherrschen und offen legen können.

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Wenn Algorithmen zu Architekten des Pricings werden

KI verwandelt das Pricing von einem starren Regelwerk zu einem lernenden System, das sich fortlaufend weiterentwickelt. Wo früher grobe Tarifraster dominierten, entstehen heute Modelle, die in Echtzeit reagieren und sich anpassen. Das verändert nicht nur Prozesse, sondern das Selbstverständnis einer ganzen Branche.

Besonders sichtbar wird dieser Wandel in der Risikosegmentierung. KI verarbeitet unüberschaubare Mengen strukturierter und unstrukturierter Daten – gespeist aus Telematik, Wearables und digitalen Interaktionen mit den Kunden. An die Stelle statischer Kategorien wie Alter oder Postleitzahl treten Verhaltens- und Lebensstildaten, die ein präziseres Risikoprofil ermöglichen. In der Kfz-Versicherung etwa wird nicht mehr das Durchschnittsrisiko bepreist, sondern das individuelle Fahrverhalten. Das ist ein Paradigmenwechsel mit klaren Vorteilen für Schadenquote und Kundenzufriedenheit.

Auch die Preisgestaltung selbst wird agiler. Während klassische Tarife in Intervallen angepasst werden, erlaubt KI eine kontinuierliche Neubewertung. In der Krankenversicherung fließen etwa Gesundheitsdaten aus Wearables ein, um Risiken dynamisch zu erfassen. Prämien werden so zu einer variablen Größe, die sich am Verhalten des Versicherten orientiert – und damit fairer wirkt, weil sie auf nachvollziehbaren Kriterien beruht.

Gleichzeitig können Produkte deutlich individueller gestaltet werden: von nutzungsbasierten Policen über Mikroversicherungen bis hin zu Angeboten für spezifische Lebenssituationen. Kunden erleben, dass der Preis ihr tatsächliches Verhalten widerspiegelt – und empfinden das als gerecht. Ergänzt durch KI-gestützte Betrugserkennung, die Auffälligkeiten frühzeitig identifiziert und Schadenkosten senkt, entsteht ein System, das Effizienz, Fairness und Vertrauen gleichermaßen stärkt.

So wird Pricing zum aktiven Differenzierungsinstrument. Versicherer bekommen damit einen Hebel, der Kundennähe und Profitabilität miteinander verbindet.

Zwischen Governance und Gestaltungsfreiheit

Je größer das Potenzial, desto dichter ist allerdings das regulatorische Netz. Die rechtlichen Rahmenbedingungen unterscheiden sich erheblich von Markt zu Markt und machen die internationale Skalierung von KI-Ansätzen anspruchsvoll.

Europa setzt auf enge Aufsicht und Nachvollziehbarkeit. Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verlangt die ausdrückliche Zustimmung der Kunden und volle Transparenz bei automatisierten Entscheidungen. Solvency II wiederum betont die Validierung und Governance der Modelle, während die Leitlinien der EIOPA sicherstellen sollen, dass Versicherungsprodukte einen fairen Wert bieten, insbesondere für schutzbedürftige Gruppen. In Summe bedeutet das: KI muss erklärbar, prüfbar und fair sein.

In den Vereinigten Staaten herrscht dagegen regulatorische Vielfalt. Da die Aufsicht auf Ebene der Bundesstaaten erfolgt, variieren die Vorgaben erheblich. Kalifornien verbietet beispielsweise geschlechtsbasierte Kfz-Tarife, während Texas sie erlaubt. Michigan untersagt den Einsatz von Kredit-Scores, Florida hingegen lässt sozioökonomische Daten weitgehend zu. Die National Association of Insurance Commissioners (NAIC) versucht, einen übergreifenden Rahmen zu schaffen und betont Prinzipien wie Fairness, Transparenz und Erklärbarkeit. Versicherer sind verpflichtet, Bias zu vermeiden, Modelle zu validieren und Prozesse nachvollziehbar zu dokumentieren.

Experimenteller zeigt sich die Lage in Südostasien. Singapur gilt mit seinen FEAT-Prinzipien – Fairness, Ethics, Accountability, Transparency – als Vorreiter. Hier steht eine verantwortungsvolle, menschenzentrierte KI-Nutzung im Vordergrund. In Malaysia, Thailand oder Indonesien dagegen befindet sich die Regulierung noch im Aufbau. Dort herrscht ein Klima des „Innovation first – regulation follows“. Das schafft Spielräume, erhöht aber auch das Compliance-Risiko.

So unterschiedlich die Ansätze auch sind – sie alle zeigen, dass die Branche zwischen Gestaltungsfreiheit und Governance ein neues Gleichgewicht finden muss.

Zahlungsbereitschaft: Der vergessene Schatz im Pricing

Viele Versicherer konzentrieren sich bei der Einführung von KI auf die Risikobewertung. Doch das eigentliche Potenzial entfaltet sich erst, wenn KI mit Erkenntnissen zur Zahlungsbereitschaft – der sogenannten Willingness-to-Pay (WTP) – kombiniert wird. Diese Verbindung ist der Schlüssel, um Preise nicht nur risikogerecht, sondern auch wertbasiert zu gestalten.

Während traditionelle Modelle ausschließlich darauf abzielen, Risiken präzise zu bepreisen, zeigt die Einbeziehung der Zahlungsbereitschaft, was Kunden wirklich wertschätzen; und wofür sie bereit sind zu zahlen. Conjoint-Analysen, digitale A/B-Tests und prädiktive Modelle liefern die Datenbasis für diese Erkenntnisse.

Ein Beispiel verdeutlicht den Effekt: Ein Versicherer kombinierte Fahrverhaltensdaten mit WTP-Informationen in einem Pilotprojekt zur nutzungsbasierten Kfz-Versicherung. Das Ergebnis: eine um zwölf Prozent höhere Durchschnittsprämie, eine um 15 Prozent niedrigere Kündigungsquote – ohne dass Kunden das Modell als unfair empfanden. Fairness und Profitabilität schließen sich also nicht aus; sie bedingen sich, wenn Preise als leistungsgerecht wahrgenommen werden.

Auch hier gilt: Transparenz ist Pflicht. In Europa fordert die DSGVO Zustimmung und Offenlegung, in den USA schränken einzelne Bundesstaaten wie Maryland oder Colorado die Nutzung nicht-risikobasierter Faktoren ein. Singapur erlaubt eine ethisch fundierte Anwendung, während andere asiatische Märkte größere Freiräume lassen. Die Botschaft ist klar: Zahlungsbereitschaft ist ein mächtiger Hebel – aber nur dann, wenn Governance und Fairness mitgedacht werden.

Ausblick: Vertrauen ist die neue Währung

KI verändert das Versicherungs-Pricing. Doch ob sie zum Gamechanger wird oder zum Risiko, hängt davon ab, wie Versicherer sie einsetzen. Technologie allein ist kein Garant für Erfolg. Entscheidend ist, dass sie mit klarer Governance, Transparenz und echtem Kundenfokus verbunden wird.

Governance sollte dabei nicht als regulatorische Pflicht verstanden werden, sondern als Qualitätssiegel. Kundenzentrierung bedeutet, Preise so zu gestalten, dass sie als fair und nachvollziehbar empfunden werden. Und Technologie ist kein Ersatz für Erfahrung – sie ist ihr Verstärker. Ob die Versicherer beim Einsatz von KI beim Pricing erfolgreich sind, hängt davon ab, ob sie bei der Transformation jetzt die richtigen Schritte gehen.

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